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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Kubiczek
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hatte.
    Henrys Großeltern waren schon lange tot, seine Cousinen, beide Verwaltungsangestellte, lebten mit ihren Männern und Kindern in westdeutschen Kleinstädten, Onkel und Tante führten ein ähnlich stilles Leben wie seine Eltern.
    Ein paar Zugezogene aus Berlin lebten seit einigen Jahren im Dorf, ein Künstler, ein Architektenpaar und ein Rechtsanwalt im Ruhestand, Fremde, die von der Dorfgemeinschaft ignoriert oder mit üblem Klatsch überzogen wurden. Die Fremden setzten Solaranlagen auf ihre Dächer und bauten Schweineställe zu Ateliers um. Das wollten die Dörfler nicht verstehen, und auch Henry fand – bei allem Hass auf das Land –, dass die Zugezogenen das soziale Gefüge der Alteingesessenen bedrohten, dessen Basis das gemeinsame niedrige materielle Niveau war.
    Die Mutter wartete schon in der offenen Haustür, als Henry und sein Vater vom dunklen Hof herüberkamen, wo das Auto parkte. Sie trug eine geblümte Kittelschürze, unter der ihre Festtagsbluse hervorschaute, und Henry bemerkte während der Umarmung einen dezenten Hauch von Kölnischwasser.
    Sie nahm ihm den Mantel ab, stellte seine Schuhe weg und reichte ihm die karierten Filzpantoffeln.
    Â»Ich bring die Tasche auf dein Zimmer, Henry.«
    Â»Warte, ich komm mit.«
    Â»Willst du auch ein Bier?«, fragte sein Vater.
    Â»Ja«, sagte Henry und stieg die Treppe zur ersten Etage hoch, wo neben seinem alten Kinderzimmer, das noch immer so aussah wie damals, als er es verlassen hatte, um in Berlin zu studieren, das Schlafzimmer seiner Eltern lag.
    Im Erdgeschoss befanden sich eine große Küche, das Stube genannte Wohnzimmer und eine Toilette mit Handwaschbecken. Das Badezimmer lag im Keller und war von Henrys Onkel in den frühen Achtzigerjahren dort eingebaut worden.
    Erst diesen Sommer hatte der Vater im Haus renoviert, die alten Muster- durch weiße Raufasertapeten ersetzt, die Mutter wusch und putzte nach der traditionellen Art, die sie auf der Hauswirtschaftsschule gelernt hatte, und trotzdem wirkte das gesamte Interieur ein wenig heruntergekommen. Alles war leicht beschädigt, angekratzt, fadenscheinig, ausgebleicht. Genauso wie draußen – in der Werkstatt, im Stall, auf dem Hof –, wo alles irgendwie verbogen war oder verwittert oder verrostet. Der Putz fiel in großen Fladen vom Haus, die Regenrinne hatte Löcher, und die drei ausgetretenen Stufen, die vom Vorgarten zur Haustür führten, bildeten bei nassem Frostwetter eine Todesgefahr.
    Â»Es wird ja doch alles ein bisschen staubig, wenn niemand hier wohnt«, sagte Henrys Mutter und machte das Fenster des Kinderzimmers auf, das nach hinten auf den Hof ging.
    Â»Geht’s Vater gut?«
    Â»Wenn ich das wüsste«, seine Mutter lachte. »Er klagt nicht mehr so viel wie früher. – Er hat seine Tiere und das Feld. Und sein Bier natürlich.« Sie öffnete Henrys Tasche und reichte ihm das Notebook, das ganz oben lag. Dann begann sie, seine Sachen in den leeren Kleiderschrank zu räumen.
    Henry stellte das Notebook auf dem schmalen Schreibtisch ab, an dem er früher Hausaufgaben gemacht hatte. »Ich will ein bisschen arbeiten in den nächsten Tagen, an dem zweiten Buch.«
    Â»Aber nicht, dass du wieder alles so schlechtredest, Henry, und dann der ganze Ort über uns spricht.«
    Â»Keine Angst. – Ich überlege, ob ich was über die Natur schreiben soll, über die Landschaft.«
    Â»Aber doch nicht über unsere hier!«
    Â»Warum denn nicht?«
    Â»Ach, Henry, die ist doch nichts Besonderes.« Sie klappte die Schranktür zu. »Geh schon mal runter zum Vater in die Stube. Ich deck in der Küche den Tisch. – Oder soll ich in der Stube decken, was meinst du?«
    Â»In der Küche. Wir können ja morgen Mittag die Gans in der Stube essen.«
    Â»Solln wir zuerst essen oder zuerst bescheren?«
    Â»Essen«, sagte Henry, »ich freue mich schon den ganzen Tag auf den Kartoffelsalat.«
    Henrys Vater saß im Wohnzimmer auf dem braunen Cordsofa und sah fern: singende Menschen, Weihnachtsdekoration, Freude, Zufriedenheit. Auf dem Couchtisch standen zwei Bierflaschen und zwei Gläser. Henry setzte sich neben seinen Vater und goss sein Glas voll.
    Â»Du kannst ruhig was anderes einschalten«, sagte sein Vater und hielt ihm die Fernbedienung hin, »ich gucke sowieso nicht richtig.«
    Â»Nee, lass mal, ist schon gut

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