Kopfloser Sommer - Roman
bin, dürfen sie angekettet ein bisschen im Garten spazieren gehen. Aber nein, das geht nicht, ich denke schon genau wie Anders. Ich bin nicht besser. Gut möglich, dass ich allmählich ein bisschen durchdrehe, aber ich bin trotz allem keine Psychopathin. Sollten die Eltern noch am Leben sein, muss ich ihnen helfen. Aber dann würde man die Leiche von Anders finden ‒ es dreht sich im Kreis.
Was soll ich machen? Ich bin müde und kann nicht mehr klar denken. Aber ich will nicht zurückgehen, ich muss wissen, ob sie noch dort unten sind.
Ich schiebe die Spanplatte ein Stück zur Seite und horche, höre aber nichts. Ich klettere hinein und schiebe die Platte zurück an ihren Platz. Wenn man es nicht weiß, käme man nicht auf die Idee, dass es sich um eine Tür handelt. Sonst wären Anders’ Eltern bestimmt auf diesem Weg nach oben gekommen. Vorausgesetzt, sie haben sich befreien können. Vorsichtig nähere ich mich der Tür zu dem Raum, in dem ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ich höre Stimmen. Aber nicht ihre, wie beim letzten Mal plärrt das Radio. Eine Sendung über die wirtschaftliche Situation in China, aber wie interessant es auch sein mag, ich habe keine Zeit, zuzuhören. Ich fasse an die Türklinke und öffne die Tür. Es ist Licht im Zimmer. Ich stoße die Tür auf und bin sehr erleichtert: Die Ketten liegen auf dem Boden, hier ist niemand.
Ich schaue mich um. Über dem Dreckhaufen schwirren Insekten. Die einsame Glühbirne hängt an einer Leitung vollerFliegen. Hier haben diese armen Menschen über zwei Jahre gehaust. Als sie endlich freikamen, sind sie in die Gänge unter dem Garten gelaufen und vermutlich bei dem Einsturz umgekommen. Kein schöner Gedanke, aber dennoch besser so. Nicht daran zu denken, wenn sie an die Erdoberfläche gekommen wären.
Auf dem Rückweg bin ich wieder beunruhigt, denn ich erinnere mich an Fernsehberichte aus Erdbebenregionen: Vor allem denke ich daran, dass man noch Tage, ja, Wochen später Überlebende in den Ruinen findet. Es ist also noch nicht vorbei. Wenn Mutter das nächste Mal Wäsche im Garten aufhängt, ragt plötzlich eine Hand aus der Erde, fasst sie an den Knöchel und zieht. Nein, ich muss jetzt aufhören. Ich steige die schmale Treppe hinauf und schließe die Luke. Gieße mir ein Glas Milch ein und schleiche zurück zu Jacob. Alles dreht sich und ich weiß nicht, was ich noch glauben soll.
Als ich unter der Decke liege, bete ich, dass sie während des Einsturzes umgekommen sind. Einfach von der Erde begraben. Und hoffentlich ist es so schnell gegangen, dass sie nicht gelitten haben. Schließlich liegt mir nichts daran, dass sie leiden, ich bin wie gesagt keine Psychopathin. Ich will nur, dass sie tot sind.
17
Alles liegt jetzt bald zwei Monate zurück, und inzwischen ist langsam der Alltag wieder eingekehrt. Wer hätte das gedacht? Ich muss Mutter recht gehen, es kann auch sehr schön sein, wenn nicht ständig etwas passiert. Nach solchen Sommerferien ist das normale Alltagsleben genau das, was wir alle brauchen.
Jacob und ich haben das neue Schuljahr begonnen, und Mutter arbeitet wieder. Der Sommer ist kühler geworden, der Wind rüttelt in den Bäumen im Garten, und in den letzten Tagen hat es auch geregnet. Normalerweise hasse ich diese Zeit des Jahres, aber nicht in diesem Jahr. Ich finde, es ist schön, wenn es früh dunkel wird. Abends feuern wir den Kamin an, und Jacob und ich erledigen unsere Hausaufgaben am Wohnzimmertisch. Ich helfe ihm, und Mutter hilft mir. Eigentlich merkwürdig, alles ist anders verlaufen als geplant, und doch scheint sich alles eingerenkt zu haben.
In der ersten Zeit fürchtete ich jeden Tag, wenn ich von der Schule nach Hause kam, dass ein Polizeiwagen in der Einfahrt stehen könnte. Jetzt glaube ich nicht mehr daran. Im Garten ist nichts aufgetaucht, was Jacob oder mir Probleme bereiten könnte.
Das Erdreich wurde mit einem Traktor planiert. Frau Larsen und Mutter konnten sich zunächst nicht einigen, wer die Arbeiten zu bezahlen hat, aber Mutter hatte das Recht auf ihrer Seite. Allerdings hat Frau Larsen Geld gespart. Sie hat sich einen Traktor geliehen und es selbst erledigt. Es sah ziemlich gefährlich aus und Mutter war entschieden dagegen.Denn sie hat im Supermarkt gehört, dass Frau Larsen vor ein paar Jahren mit einem richtigen Trecker in den Schulbus gefahren ist und keinen Führerschein mehr besitzt. Aber der Garten ist ja privater Grund, und da es sich nur um einen Gartentraktor handelte, war es wohl
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