Kopfloser Sommer - Roman
beobachte sie von der Terrasse aus. Ich muss immer daran denken, was unter ihren Füßen verborgen liegt. Nun bleiben sie stehen und küssen sich, Jacob tanzt um sie herum. Er ist so glücklich, es ist schön zu sehen. Vater pflückt eine Margerite, gibt sie Mutter, dann küssen sie sich noch einmal. Mutter sieht mich und winkt. Ich winke zurück, denn es sieht entzückend aus, das gebe ich zu. Aber ich würde es noch mehr genießen können, wenn ich nicht wüsste, dass sie auf einer eingestürzten Folterkammer stehen. Von den Leichen gar nicht zu reden. Ich würde ihnen gern die ganze Geschichte erzählen. Aber das geht nicht, ich muss es für mich behalten, auch wenn es schwerfällt.
Und dann habe ich wieder dieses Gefühl, das mich immer öfter überkommt: Ich halte es in meinem eigenen Körper nicht aus. Es rumpelt in mir, obwohl ich ganz still auf der Terrasse stehe. Das Richtige und das Falsche bekämpfen sich in mir, und ich weiß nicht, was was ist. Ich flüchte vom Kampfplatz und hebe vom Boden ab, obwohl ich dort bleibe, wo ich bin. Mit jedem Atemzug steige ich höher hinauf, bis ich über unserem Haus schwebe und auf mich selbst hinabschaue ‒ oder besser auf meinen Körper, der auf der Terrasse steht. Und mir gefällt, was ich sehe. Emilie. Ich winke ihr zu, aber sie sieht es nicht. Sie macht sich Gedanken und sieht besorgt aus. Ich werde traurig, denn es geht ihr offenbar nicht gut, und ich habe große Lust, sie aufzumuntern, wenn niemand sonst es tut.
»Emilie, du bist okay!«, rufe ich. »Du tust doch, was du kannst!«
Aber sie scheint mich nicht zu hören. Sie sieht so klein und verzagt aus, ich habe den Kontakt zu ihr verloren. Ich mag nicht zurückkehren, denn ich möchte nicht sein wie sie; immer höher steige ich hinauf, ich sehe den Garten und den Wald dahinter, die Küste und das Meer, es sieht aus wie ein Bild. Dort unten wohne ich, dort lebt meine Familie. Es ist in Ordnung, es sieht nett aus, aber ich spüre, dass es nichts für mich ist. Ich halte es wie die Schwalbe in meiner Collage: Ich werfe einen raschen Blick auf das Elend unter mir und bin klug genug, um weiterzufliegen. Weiter und weiter, ich weiß nicht, wo es endet, es wird spannend werden. Dann verlasse ich das Bild und bin verschwunden.
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