Kopfloser Sommer - Roman
nicht mehr beklagen, denn wir wollen unserem neuen Zuhause doch eine Chance geben. Das gilt auch für Jacob. Ihm geht es nicht anders als mir, vielleicht sogar noch schlechter. Er vermisst seine Freunde aus der Stadt, und er vermisst Vater. Das ist am schlimmsten. Wenn Mutter versucht, mit ihm darüber zu reden, wird er noch unglücklicher, deshalb hat sie damit aufgehört. Es ist ja nicht so, dass wir unseren Vater nicht mehr sehen würden. Wir sehen ihn an jedem zweiten Wochenende und an einem Tag unter der Woche. So jedenfalls ist die Regelung, falls nicht irgendetwas dazwischenkommt.
Ich blättere in unserem Familienalbum und finde ein Foto von Vater und mir. Er steht an einem Strand irgendwo in Griechenland, ich sitze auf seinen Schultern. Es ist bestimmt fünf, sechs Jahre her, eigentlich bin ich schon zu groß für ihn ‒ ersieht aus, als könnte er jeden Moment umfallen. Ich glaube, er ist damals tatsächlich hingefallen, aber ich erinnere mich nicht mehr, ob ich mir dabei wehgetan habe. Ich weiß nur noch, dass es lustig war. Soll ich meinen Kopf ausschneiden und irgendwo in die Collage kleben? Vielleicht ins Turmzimmer? Könnte interessant sein, aber ich traue mich nicht, das Familienalbum zu zerschneiden. Mutter würde toben. Und wahrscheinlich ist die Botschaft ohnehin klar: Ihre Tochter findet es doof, dass sie aus der Stadt weggezogen sind ‒ hier zu wohnen ist Schwachsinn. Eine Stunde Autofahrt von Kopenhagen entfernt, ein Dorf, das nicht mal eine richtige Stadt ist: Höchstens zwanzig Häuser, von denen die Hälfte zum Verkauf steht. In der anderen Hälfte wohnen Pendler, die am frühen Morgen in die Stadt fahren und am späten Nachmittag wieder zurückkommen. Vier Kilometer sind es bis zum nächsten Supermarkt. Mutter hat behauptet, es gäbe eine Reitschule, aber da hat sie wohl nicht richtig recherchiert, denn die ist längst geschlossen.
Ich blättere in meinen Zeitschriften und Modemagazinen und versuche ein Pferd zu finden, dass ich einkleben kann. Es sollte eins mit einem Reiter sein, denn ich will den Reiter ausschneiden, so dass man nur die Silhouette sieht. Wenn es zum Schluss so richtig unheimlich aussieht, lohnt der Aufwand. Ich blättere, aber ich finde kein Pferd. Dafür eine Spinne. Ich hasse Spinnen, doch hier auf dem Land gibt es viele. Überall sind Insekten und Würmer; abends, bevor ich schlafen gehe, muss ich mein Bettzeug ausschütteln.
Ich schneide die Spinne aus und klebe sie ins Turmfenster. Jetzt sieht sie aus wie ein Auge, das mich anzustarren scheint. Der Spinnenkörper ist die Pupille und ihre Beine sind schwarze Blutäderchen. Sieht tatsächlich ziemlich gruselig aus, ich bekomme eine Gänsehaut ‒ offenbar ist es mir gelungen.
Dann finde ich ein Bild von Jesus und schneide seinen Kopf aus. Wo soll ich ihn hinkleben? Natürlich ins Maul der Flugechse, die an der Brücke über dem Wallgraben Wache hält. Der Saurier zermalmt den Jesus-Kopf zwischen seinen Zähnen, das herabtropfende Blut male ich dazu. Als ich mit der Collage gerade fertig bin und sie ehrlich gesagt ziemlich gut finde, ertönt ein weiterer Schrei aus Jacobs Zimmer. Doch dieser Schrei ist anders. Es klingt, als hätte er nach einem Albtraum die Augen aufgeschlagen, nur um zu entdecken, dass die Wirklichkeit noch schlimmer ist. Und so ist es wohl auch, wie es aussieht, denn als Mutter und ich in sein Zimmer kommen, sitzt er im Bett und zeigt auf das Fenster.
»Da ist ein Mann, da draußen! Er hat zu mir hereingeguckt!«
»Das hast du geträumt, Jacob«, sagt Mutter so ruhig wie möglich, als sie sich auf die Bettkante setzt und ihn in ihre Arme nimmt. Doch er schüttelt den Kopf und starrt weiter auf die Fensterscheibe. Jacob sagt keinen Ton, er zeigt nur auf das Fenster und ist ganz bleich. Langsam läßt er den Arm sinken, hält den Blick aber unverwandt auf das Fenster gerichtet.
Normalerweise frage ich Jacob, was er geträumt hat, wenn er nach einem Albtraum aufwacht. Manchmal muss ich es ihm regelrecht aus der Nase ziehen, das kann schon eine Weile dauern. Denn er mag nicht an seine Träume erinnert werden, aber ich locke ihn mit Süßigkeiten oder drohe, ihn zu verprügeln. Es ist unglaublich, was mein kleiner Bruder so träumt. Allerdings frage ich ihn nicht, wenn Mutter dabei ist; sie will das nicht. Weil er dadurch oft noch mehr weint. Stattdessen gehe ich ans Fenster und schaue hinaus, aber ich sehe nichts. Auch nicht, als ich das Fenster öffne, den Kopf hinausstrecke und am Haus
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