KOR (German Edition)
Antarktis am weitesten entfernten Punkt b e zeichnete, wurde erstmals 1957 von einer russischen Expedition aufgesucht. Yevgeny Tolstikov hatte von der sowjetischen Regierung den Auftrag b e kommen, eine provisorische Forschungsstation zu errichten. Das Dach dieser Station zierte eine Leninbüste. Noch heute schaute sie aus dem ewigen Eis in eine endlose Ferne, während die restlichen Bauwerke längst im Schnee ve r sunken waren. Die Mannschaft lebte dort für etwa zwei Deze m berwochen, bevor sie sich wieder auf den Rückmarsch machte. Sie sollte geologische und meteorologische Untersuchungen anstellen sowie die Dicke des Eises me s sen.
Hatte Whitehead dies etwa dazu verleitet, selbst an den Pol der Unzulän g lichkeit zu reisen, um eigene Forschungen anzustellen? Julia zufolge hatte er vorgehabt, Eiskernbohrungen durchzuführen. Dieses Vorgehen diente der Untersuchung vergangener klimatischer Veränderungen. Die Luft wurde vom Eis umschlossen und damit auch ihre Bestandteile, die sie mit sich führte. Die Analyse von Eiskernen lieferte in der Regel ein sehr genaues Bild früherer erdgeschichtlicher Epochen. Manche Wissenschaftler behaupteten sogar, diese Methode sei exakter als die Radiokarbonmethode, wenn es um Alter s bestimmungen ging. Aber ob sich Allan Whitehead tatsächlich damit befasst hatte? Eine Station am Pol der Unzulänglichkeit zu errichten, stellte eine l o gistische Herausforderung ohnegleichen dar. Der abgeschiedene Ort schien mehr geeignet zu sein, nach Dingen zu forschen oder Experimente durchz u führen, die vor der Öffentlichkeit im Verborgenen gehalten werden sollten. Ein streng geheimes Projekt. Wenn dies stimmte, so stellte sich u n weigerlich die Frage, wer Allan Whitehead finanziell unterstützt hatte.
Chad war kein Geologe und schon gar kein Antarktisforscher. Ihn intere s sierte allein die Frage, was mit Allan Whitehead und seiner Mannschaft g e schehen war. Welches Geheimnis verbarg sich in KOR? Hatte es etwas mit Allans Forschung zu tun oder steckten völlig andere Aspekte dahinter?
Waren sie überhaupt gut genug vorbereitet?
„Dort vorn ist sie.“ John Arnolds Stimme schreckte ihn auf.
Chad musste eingeschlafen sein. Er schaute aus dem Fenster. Bis zum H o rizont erstreckte sich eine ebene Eisfläche, die aufgrund der beginnenden Polarnacht wie die Schattenseite eines fremden Planeten wirkte. Aus dem trüben Weiß schälte sich ein dunkler, schnell größer werdender Punkt.
Willkommen am Pol der Unzulänglichkeit.
*
KOR gehörte ihm. Jeffrey Norton wurde dies klar, als er die Konturen der Station aus der Luft betrachtete, die sich als schwarzer Fleck in der tiefen Dämmerung abzeichneten.
Allan Whitehead hatte zwar für den Bau bezahlt, doch da er seit einem Jahr als verschollen galt und es keine weiteren Besitzansprüche gab, betrachtete Norton KOR als sein Eigentum. Julia Whitehead hatte ihm gegenüber nie etwas darüber geäußert, dass dies ihre Forschungsstation sei. Ihre ganzen Bestrebungen richteten sich darauf, ihren Vater wieder zu finden. Falls er überhaupt noch lebte.
Jeffrey Norton hatte versucht, Kontakte zu Forschungsinstituten zu knü p fen, in der Hoffnung, das Interesse an einer Benutzung oder sogar an einem Kauf zu wecken. Zusätzlich zu den Einnahmen durch Konstruktion und Bau hätte er KOR ein zweites Mal zu Geld machen können. Insgeheim hatte er sich schon seine Hände gerieben.
Der Funkspruch hatte ihn ziemlich durcheinandergebracht. Norton war davon überzeugt gewesen, dass die Station leer stand. Schließlich hatte das damalige Rettungsteam niemanden mehr gefunden. Die Bilder von damals machten auch nicht gerade den Eindruck, als wäre die Mannschaft nur gerade mal aufs Klo gegangen. Was auch immer Allan Whitehead vorg e habt hatte, es hatte ihn und seine Kollegen buchstäblich in Luft aufgelöst.
Norton betrachtete KOR als eine Art Wunder. Zwischen den ersten Zeic h nungen auf dem Reißbrett und der Fertigstellung des Baus lag ein Zeitraum von dreieinhalb Jahren. Er hatte damals den Auftrag erhalten, da er bereits für ein schwedisches Institut eine Forschungsstation konstruiert hatte. Über Aufträge konnte er sich wirklich nicht beklagen. Gleich nach seinem Studium der Ingenieurwissenschaft und Architektur hatte er sich selb st ständig g e macht. Er wollte sein Leben nicht als einfacher Angestellter fristen, der ta g täglich nur das machte, was ihm sein dämlicher Chef auftrug. Von Anfang an verfolgte er den Plan, sein Schicksal selbst
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