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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Auffangen des geschmolzenen Kupfers, ein steinerner Kohlenrost. Die runden Wände waren rußgeschwärzt. Unter dem gewölbten Dach summten träge ein paar Fliegen. Eine armselige Behausung. Beim Volk der Kur hatte es nur wenig Unterschiede zwischen den Familien gegeben. Einige besaßen ein paar Ziegen mehr, andere hatten einige Körbe Nüsse mehr, aber jedem gehörte irgend etwas. Hier in der Stadt gab es Familien, die unermeßlich reich waren, und andere, die so gut wie nichts besaßen. Sie hatte lange gebraucht, diese Unterschiede zu erkennen, denn im Palast war man allzuoft vom Volk isoliert.
    Die Kranke streckte einen Arm aus und berührte die Falten von Inannas Robe. Ihre Finger prüften die Qualität und Eleganz des Stücks. Ihre Hände waren dick und voller Schwielen, und die Haut unter ihren Nägeln war schon gelb gefärbt. »Was sollte die Königin hier wollen?« ächzte die Kranke. Inanna überlegte, ob sie ihr die Wahrheit sagen sollte. Daß sie es nämlich müde geworden war, rings um sich herum die Menschen sterben zu sehen und das Herumsitzen in der leeren Großen Halle allmählich unerträglich wurde. Aber dann sagte sie sich, daß die Schmiedin das wohl nicht verstehen würde. Niemand konnte Inannas Gefühle verstehen, nicht einmal Lyra. Als sie angekündigt hatte, von nun an Kranke besuchen zu wollen, hatte Lyra geglaubt, sie habe den Verstand verloren.
    »Ich war früher, bei meinem Volk, eine Heilerin«, hatte Inanna erklärt.
    »Aber Ihr werdet Euch anstecken!«
    »Das kann mir überall widerfahren.«
    »Ihr seid nicht irgendwer, sondern die Königin«, hatte Lyra widersprochen. »Wenn Ihr sterbt, steht die Stadt führungslos da.« »Was macht das schon? Wenn nicht bald etwas geschieht, ist von der Stadt nichts mehr übrig, worüber zu herrschen sich lohnen würde. Gib mir die Ledertasche.«
    »Was enthält sie?«
    »Kräuter, Arzneien und andere Heilmittel.«
    »Ihr solltet zu den Göttinnen beten, solltet ihre Hilfe für die Stadt erflehen. Das ist es, was eine Königin zu tun hat!«
    »Aber nicht diese Königin.«
    In der kleinen Schmiedewerkstatt brabbelte die Kranke vor sich hin. Schließlich beschuldigte sie Inanna, sich verkleidet zu haben und in Wahrheit ihre Mutter zu sein. Inanna wußte, daß die wirkliche Mutter der Schmiedin gestern gestorben war; und mit ihr ein Onkel und ein Bruder. Drei Gefährtinnen der Königin hatten die Leichen zu den Feuern tragen müssen. Die Mutter der Schmiedin war eine Riesin mit enorm breiten Schultern gewesen und hatte beim Tragen einige Mühe bereitet.
    »Mutter...« Die Kranke hustete und versuchte, sich aufzurichten.
    »Ganz ruhig.« Inanna nahm etwas Korbweidenrinde aus der Tasche, zerkaute sie zu einem Brei und strich die Masse auf die blasenbesetzten Lippen der Frau. Sie wußte, daß dieses Mittel bestenfalls den Tod der Schmiedin etwas aufschieben konnte.
    »Du kannst mich nicht dazu bringen, diese Pampe zu essen.« Eine Kinderstimme, wie von einem kleinen Mädchen. Die Fieberkranken kehrten kurz vor dem Ableben oft in Gedanken in ihre Vergangenheit zurück. Wie oft hatte Inanna das schon miterlebt? Die Kranke spuckte und riß sich mit den Nägeln über das Gesicht. Einige der Bläschen platzten auf.
    Inanna packte ihre Hände und hielt sie fest. Die Krankheit wickelte sich in der Kranken wie ein nasses Seil zusammen. Jedesmal empfand Inanna etwas anderes, wenn sie die Krankheit fühlte: hier erzeugte sie einen bitteren Geschmack im Mund, da löste sie Schmerzen in ihren Armen und in ihrer Brust aus. Manchmal, wenn sie die Hände der Sterbenden berührte, sah sie große Bilder mit Dingen, die sie kaum verstand: explodierende Gebirge, gewaltige, unkontrollierbare Waldbrände oder Wirbelwinde, die ganze Städte in die Lüfte rissen.
    War denn auch das Land der Toten ein Ort endloser Katastrophen? Ähnelte das Totenreich so sehr der Erde der Lebenden?
    Ohne Pause brannten am Fluß entlang die Beerdigungsfeuer. Wenn Inanna nachts in ihrem Bett lag, träumte sie davon: Fleisch das von Knochen fiel, schwarze und verschrumpelte Haut, leere Augenhöhlen, die nach der Schuldigen an diesem Desaster Ausschau hielten, nach ihr. Warum konntet Ihr uns nicht retten? Warum habt Ihr den Tod von so vielen von uns zugelassen? Danach träumte sie häufiger, sie würde endgültig aufgeben und sich zu den Toten ins Feuer legen. Die Flammen leckten an ihrem Rückgrat und an ihrem Hals, bis sich ihr Körper in ein Häufchen weißer Asche verwandelt hatte. Wie Schnee,

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