Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
zu retten. Aber was machte das schon? Inanna kniete sich vor ihn hin, entkorkte ihren Weinschlauch und gab ihm zu trinken. Der Mann saugte die Flüssigkeit gierig ein. Als er fertig war, legte er den Kopf zurück und schloß die Augen.
    Inanna blieb noch eine Weile bei ihm stehen und fragte sich, wann es mit ihm zu Ende sein würde. Sie dachte an die kommenden Tage und an die Beerdigungsfeuer, die den Fluß entlang brennen würden. Vielleicht würde sie Red noch beneiden.
    Ihre Sandalen klapperten auf den Fliesen der verlassenen Großen Halle. Sie begab sich zum Thron. Nun war sie also die Königin. Sie setzte sich auf den Thron und starrte in die leere Halle.
    Was war überhaupt noch übrig, worüber sie Königin sein konnte?
     

IV
    Der Monat des Ersten Regens. Aber kein Regen kam. Der Fluß war nicht mehr als ein faulender, grüner Faden. Salzklumpen von der Größe einer Männerhand lagen verstreut auf den Feldern und brachten jedem den Tod, der sie berührte. Das Wasser war ungenießbar, und keine Fische waren mehr da, die noch sterben konnten.
    Wie kann man eine solche Pest in Worten beschreiben? War das Flußfieber mit einer großen Reise zu vergleichen, zu der viele aufbrechen, von denen aber nur sehr wenige das Ziel erreichen? Oder war es eher wie ein Alptraum, bei dem das Erwachen der schlimmste Teil war? So viele verlassene Häuser. Etliche Dächer eingefallen und niemand mehr da, der sich die Mühe machte, sie zu reparieren. Am Flußufer brannten die Beerdigungsfeuer Tag und Nacht. Die Stadtmauern waren bald schon von einem grauen Aschefilm überzogen.
    Später blickte sie auf diese Wochen als merkwürdig friedliche Zeit zurück. Die Händler hatten ihre Buden geschlossen, und die Bauern strömten nicht länger in die Stadt. Die meisten Kaufleute waren nach Norden weitergezogen, und selbst die Diebe und Betrüger schienen zu krank, um ihrem Tun nachzugehen. Eine sonderbare Stille ließ sich über allem nieder, und wurde nur hin und wieder von einer Totenklage unterbrochen. Auf dem Marktplatz wuchs das Gras, und an den unerwartetsten Stellen blühten Blumen.
    Am deutlichsten erinnerte sich Inanna jedoch an den Gestank des Todes. Schwer und Übelkeit erregend wie verdorbenes Gemüse. Während der Berg der Leichen anwuchs, eilten die, die noch laufen konnten, mit parfümierten Tüchern vor Mund und Nase durch die Straßen. Der Gestank drang aus allen Ritzen. Selbst als die Große Halle mit Pech und Polei bestrichen wurde, und auch als man täglich frische Blumen auf den Fliesen ausstreute, ließ sich der üble Geruch nicht überdecken. Wenn Inanna sich zum königlichen Horst hinaufbegab, folgte ihr der Gestank auf Schritt und Tritt Und wenn sie sich zum Essen niederließ, kam ihr jeder Bissen wie zu Materie gewordener Todesgeruch vor.
    Ein blauer Himmel, und eine so knallige Sonne, daß es in de Augen schmerzte. Jeden Morgen trat sie auf den Balkon hinaus und sah zu, wie das Korn auf den Feldern verdorrte. Die Ähre vertrockneten und verschrumpelten. Die Körner ließen sich zwischen den Fingern zu Staub zermahlen. Erst die Seuche, und nun auch noch eine Hungersnot. Inanna starrte auf das vernichtet Getreide, und mit einem mal fühlte sie sich vollkommen hilflos. Hatte es denn wirklich jemals eine Zeit gegeben, in der sie sich a den Abendbrottisch gesetzt und gewußt hatte, daß sie den nächsten Tag erleben würde? Waren die Nachmittage real gewesen, an denen sie mit Alna an den Kanälen Beeren gepflückt, an den Abenden danach zusammen mit der Tochter ein heißes Bad genommen und sich über nichts anderes Gedanken gemacht hatte, als über Sonnenbrand und Moskitostiche?
    Alna. Manchmal waren die Gedanken an das kleine Mädchen schlimmer als die an die Seuche. Inanna wagte es nicht, Boten zu ihr zu senden, denn die könnten ja bereits infiziert sein und die Krankheit in das abgelegene Dorf tragen. So gab es für die Mutter keine Möglichkeit zu erfahren, wie es der Tochter ging. Oder hatte das Fieber sich schon bis dorthin ausgebreitet? Inanna machte sich unentwegt Sorgen um das Kind. Natürlich redete sie sich ein, daß ihre Befürchtungen bei nüchterner Sicht durch nichts gerechtfertigt waren, daß die Pest die äußeren Dörfer unmöglich erreicht haben könnte und daß sie sich, wenn überhaupt auf jemanden, auf Seb verlassen konnte. Doch viel zu oft wachte sie mitten in der Nacht auf, weil sie glaubte, Alna gehört zu haben. Dann lag sie für Stunden wach und malte sich die größten Schrecken und

Weitere Kostenlose Bücher