Kornmond und Dattelwein
hoffnungsloser Liebe an, so daß Inanna ein wenig in ihrem Entschluß zu wanken begann. Plötzlich ließ er sie los und wandte sich ab. »Du hast recht.« Er schien eingesehen zu haben, daß er nichts mehr bewirken konnte. »Tu, was du willst. Geh, wenn du willst. Ich halte dich nicht mehr auf.« Er lehnte sich an die Wand und sah sie müde an.
Inanna mußte an das bemalte Gesicht des Eunuchen denken, an di Räume unter dem Tempel und an Rheti, die die Stadt mit ihre Boshaftigkeit, ihrer Teuflischkeit überziehen wollte. Aber dan war da auch noch Alna. Was sollte aus ihr werden? Wußte Se denn noch nichts von der Seuche? Hatte er noch keinen Fieber kranken gesehen? Eine ganze Halle voller Toter, alle mit den Bläs chen auf den Lippen.
Rheti als Königin. Zwanzig Kinder. Oder hundert. Alnas schmutziges Gesicht. Wie soll man eine Entscheidung treffen, wenn der Tod einen umzingelt hat und man sich vorkommt wie eine Ziege in einer festen Koppel? Inanna schob eine Hand in die Tasche, um-schloß mit den Fingern den Wandelstein und schloß die Augen. Sie kam sich schon wie eine abergläubische Närrin vor, als sie plötzlich einen Stoß erhielt und zu Boden fiel. Als sie wieder auf den Füßen stand, war sie nicht mehr in der Stadt, sondern im Lager der Kur. Und Lilith lag in ihren Armen.
Pulal stand über den beiden und schwang seine Axt. Die Kupfer-schneide glänzte im Sonnenlicht. In nur einem Augenblick würde er sie hinabsausen lassen, und der ganze Alptraum würde wieder von vorn beginnen. Lilith zitterte. Inanna roch das Aprikosenöl im Haar der Schwester. »Zurück!« brüllte Pulal und hob die Axt über den Kopf. Die Narbe auf seiner Wange war von einem tödlichen Weiß. Inanna starrte ihn mit Wolfsaugen an. »Ich werde verhindern, daß er dir etwas zuleide tut«, versprach sie Lilith. »Dieses Mal werde ich es mit ihm ausfechten!«
Und während sie das noch sagte, löste sich Lilith in ihren Armen auf und verwandelte sich in die Stadt. Und Inanna umarmte jetzt die Stadt: ihre Mauern, ihre Straßen und ihre Bewohner. Bis zum letzten Blutstropfen, bis zum letzten Stein hielt sie alles umfangen. Die Stadt verblaßte, und darunter tauchte Alna auf. Und Inanna sah, daß Alna, die Stadt und Lilith eins waren, daß alles miteinander verbunden war und daß alles auf die große Entscheidungsschlacht hinauslief.
»Mama?« Die echte Alna zupfte ängstlich an Inannas Ärmel. »Mama, bist du eingeschlafen?«
342in, ich bin nicht eingeschlafen.« Sie fuhr mit den Fingern durch das Haar der Tochter. Wie ruhig ihre Finger waren. Wie leer und rein wie ein neuer Krug sie war. Eine Beherztheit erfüllte sie, wie sie sie noch nie zuvor erfahren hatte. Inanna hielt Alna hoch und Seb entgegen. »Bring sie hinaus aus der Stadt. Wenn das Fieber vorüber ist und ich noch am Leben sein sollte, wirst du sie zurückbringen.«
»Heißt das, daß du bleibst?«
» Ja.«
Das Blut strömte Seb ins Gesicht, und er wirkte ganz so, als wollte er jetzt etwas Wichtiges sagen, aber statt dessen nahm er nur wortwortlosa. Das Kind schlang ihm die Arme um den Hals und legte den Kopf an seine Brust. Seb machte sich auf den Weg.
»Warte!« Er blieb stehen und kehrte ein paar Schritte zu Inanna zurück. Der rote Federbusch auf seinem Helm tanzte in der Morgenbrise. Wie stark er war, und wie gut er aussah. Alna würde bei ihm in den besten Händen sein.
»Was ist?« fragte er.
»Besorg ihr einen Vogel als Haustier, wenn du kannst.« Sie strich Alna über das Haar und küßte sie auf die Stirn.
»Mach dir um deine Tochter keine Sorgen. Ich habe eine Kusine in einem der Dörfer, die weiter flußauf stehen. Dorthin verirrt sich nur selten jemand.« Seb zog Inanna rasch an sich heran und küßte sie. »Ich komme zurück«, versprach er.
Durch das Tor, über die Treppe, an der Küche vorbei, wo unbeachtet ein Feuer brannte und frisches Fleisch auf den Tischen lag, weil die Köche so überhastet geflohen waren. Im Gang zur Großen Halle traf Inanna endlich auf das erste menschliche Wesen: Ein Wächter lag verkrümmt am Boden und zitterte im Fieber. Sie erinnerte sich, mit diesem Mann einmal auf dem Kasernenhof exerziert zu haben, kurz bevor Alna krank geworden war. Sein Name war Red.
»Muna«,
flüsterte Red. Seine Haut hatte sich bereits gelb verfärbt, und weiße Blasen bedeckten seine Lippen wie Schminke. Angst und Schmerz waren in seinen Augen, und seine großen Hände zitterten wie bei einem gebeugten Greis. »Wasser, bitte.« Er war nicht mehr
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