Kornmond und Dattelwein
seien. Von einem anderen, stärkeren Volk, das sie schon den ganzen Sommer lang wie Hasen gejagt und getötet habe. Immer weiter seien sie nach Westen geflohen. Sie nannten dieses andere Volk die Schwarzhaarigen.«
»Vielleicht die Schwarzköpfigen?«
Der Alte sah sie überrascht an. »Ja, wieso? Ja, man könnte das Wort auch so in unsere Sprache übertragen. Die Schwarzköpfigen. Und die Wilden erzählten weiter, daß ihre Feinde von einer Hyäne mit einer großen Narbe auf der Wange angeführt würden. Dieser Häuptling soll beim Töten lachen. Die Wilden wußten nicht, ob sie im Flußdelta bleiben könnten, weil die Hyäne mit der Armee der Schwarzköpfigen ihnen dicht auf den Fersen sei. Ihrer Ansicht nach, würden die Feinde im Frühjahr die Ebene erreichen.«
Nachdem der Alte entlassen war, begab sich Inanna in den Horst und setzte sich dort lange auf die Bank. Weiße Narbe, Hyänengesicht ... also würde er im Frühjahr hier sein. Sie schloß die Augen und sah Pulals Lächeln, als er Lilith enthauptete, als er Enkimdu tötete.
Wie eine endlose Prozession reihten sich am Fluß die Totenfeuer auf. Im Osten wurden die Sterne von der Rauchwolke verdeckt. Ein neuer Mond stieg blutrot am Himmel auf und war kaum größer als ein Span. Erst das Flußfieber, dann die Hungersnot und nun Pulal. Die Stadt mußte unter einem Fluch stehen. Inanna griff nach dem Wandelstein in ihrer Tasche, aber nichts geschah. Er lag nur schwer und kalt in ihrer Hand. Bloß ein Stein und nichts weiter. Was sollte sie tun? Wo konnte sie Hilfe finden? Sie brauchte eine starke Armee, um Pulal entgegenzutreten.
Die ganze Nacht saß sie im Garten, bis die Sterne erloschen und ein schmutziges Grau über den Himmel zog. Als die Sonne aufging, kehrte Inanna in ihre Gemächer zurück. Dort weckte sie ihre Bediensteten und trug ihnen auf, ihr die feinsten Gewänder bereitzulegen.
»Geh zum Tempel und richte der Hohepriesterin aus, daß ich zu ihr komme.« Sie bemerkte die Überraschung im Gesicht des Soldaten. »Erkläre Rheti, daß ich meinen Frieden mit ihr machen will.«
V
Im Tempel stieg der Weihrauch in langen Spiralen vor den Altären auf, und die Lampen blinzelten trübe durch die verqualmte Luft. Eine
Lant
wartete neben einer Hut-Statue auf Inanna. Sie war eine große, dürre Frau mit dunkel geschminkten Augen. »Die Hohepriesterin heißt Euch willkommen, meine Königin«, sagte die Lant und verneigte sich übertrieben tief. Als sie die Arme vor den Brüsten kreuzte, ging etwas Spinnenhaftes von ihr aus, das verbunden mit dem hungrigen, unheimlichen Schimmern in den Augen Inanna Unbehagen bereitete. Die Frau richtete sich kerzengerade auf und durchquerte mit langen, staksigen Schritten das Heiligtum, vorbei an den Heilbänken und den Opfergaben an Lanla. »Wir gehen hier entlang, Muna«, erklärte sie.
»Nicht in die Höhlen unter dem Tempel?«
»Nein,
Muna.«
Die Lant war so schnell, daß Inanna fast laufen mußte, um mit ihr Schritt zu halten. Sie eilten einen schmalen Gang hinunter, überquerten einen verlassenen Hof und gelangten dann – zu Inannas großer Überraschung – auf eine Straße.
»Wo wollen wir denn hin?«
»Zur Hohepriesterin«, rief die Lant über die Schulter, ohne auch nur einen Moment stehen zu bleiben. Sie verschwand um eine Ecke herum, und Inanna mußte rennen. Sie kam sich dumm vor und wurde wütend. Diese Straßen waren so dunkel, daß sie über einen Stein stolperte und fast auf ihr Gesicht gefallen wäre. Verflucht sollte Rheti für diesen schlechten Scherz sein, sie mitten in der Nacht so herumirren zu lassen! Was sollte das für einen Sinn haben? Inanna blieb kurz stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Dabei wurde ihr klar, daß keiner von ihren Wachen wußte, wo sie war. Lief sie etwa in eine Falle? Oder in einen Hinterhalt?
»Muna!«
rief die Lant. Inanna legte die Hand an ihr Messer und bewegte sich vorsichtig um die Ecke. Hier könnte sie von allen Seiten angegriffen werden. Sie fragte sich kurz, wie viele Angreifer Rheti auf sie hetzen würde und ob sie diese lange genug aufhalten könnte, bis Hilfe gekommen war.
Aber niemand lauerte ihr hinter der Straßenecke auf. Nur die Lant wartete dort. Die Straße war eine Sackgasse und endete direkt vor der inneren Stadtmauer. Zerbröckelnde Steine, eine einzelne Rebe, die in der Hitze längst vertrocknet war, und Abfall, der sich im Rinnstein türmte. Sonst war hier nichts. Die Lant lächelte und verbeugte sich. »Die Hohepriesterin sagte, Ihr
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