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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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dachte sie, und in dem Moment wachte sie dann regelmäßig auf: zitternd und mit kaltem Schweiß bedeckt.
    Aber da waren auch glücklichere Momente. Wenn sie hin und wieder eine Stirn oder eine Hand berührte und wußte, daß dieser Mensch gerettet werden konnte. In solchen Augenblicken spürte sie, wie ihre Heilungskräfte zurückkehrten. Und wenn sie danach wieder in ihren Gemächern war, hatte sie das angenehme Gefühl, das Fieber aus jenem Körper verbannt zu haben. Und weil der eine oder andere nach ihrer Berührung wieder gesund geworden war, entstanden bald die vielfältigsten Gerüchte: Die Königin könne jedermann heilen. Ein Händedruck von ihr genügte. Sie könne sogar Tote ins Leben zurückholen. Aber Inanna wußte es leider besser. Die Toten blieben tot.
    »Die Menschen in den Straßen erzählen sich, Ihr würdet über göttliche Fähigkeiten verfügen«, hatte Lyra ihr gestern noch mitgeteilt. »Und einige meinen gar, Ihr wärt Lanla, die zu ihrem Volk zurückgekehrt sei.«
    »Leider bin ich das nicht.«
    »Sie glauben, Ihr könntet jeden durch eine Berührung heilen.« »Nur sehr wenige, und die hätten wahrscheinlich auch ohne meine Hilfe überlebt.«
    »Seid Ihr eine Göttin?«
    »Was meinst du denn?«
    »Ich meine, wenn Ihr zu jeder Tages- und Nachtzeit den Palast verlaßt, fangt Ihr Euch über kurz oder lang die Seuche ein. Habt Ihr überhaupt eine Vorstellung, was für ein Chaos hier entsteht, sobald Ihr im Krankenbett liegt?« Sie hatte Inanna die Hand auf die Schulter gelegt und sie mit Sorge und Zuneigung angesehen. »Gönnt Euch doch endlich etwas Ruhe. Ihr habt schon deutlich an Gewicht verloren. Ihr gefallt mir gar nicht mehr.«
    »Aber so viele sind krank ...«
    »Nutzt es ihnen etwas, wenn Ihr Euch selbst umbringt?« Lyra hatte ihr eine Lehmtafel gereicht, auf der lange Reihen von Strichen eingeritzt waren. »Wißt Ihr, wie viele Tote die Gefährtinnen gestern zum Flußufer getragen haben?« Für jede Leiche ein Strich. »So viele?«
    »Und denen werden noch viele folgen. Ihr allein könnt die Pest nicht aufhalten. Niemand könnte das.«
    »Was glaubst du, wann es vorüber sein wird?«
    »Vielleicht, wenn der Regen kommt.«
    Wolken trieben über der Stadt und verschwanden rasch wieder. Im Horst der Königin versiegte der Wasserfall, und die Blumen ließen die Köpfe hängen, weil sie nicht mehr gegossen wurden. Wenn Inanna in jenen Tagen den Wandelstein umschloß, glaubte sie, vor einer großen Wand zu stehen, auf deren anderer Seite nichts war. Hieß das, sie würde sterben, bevor die Seuche vorüber war? Oder stand ihr irgend etwas im Weg und lähmte sie? Kämpfte sie gegen einen realen Feind oder rang sie nur gegen sich selbst?
    Die Schmiedin rollte sich auf die Seite und schloß die Augen. Am Morgen würde sie auch bei den Feuern am Fluß sein. Und ihr Sohn würde ihr zweifelsohne einen Tag später folgen. Unter der Decke summten und flogen die Fliegen. Draußen war der Himmel blau und klar. Die Frau, der Sohn, sie alle gingen, einer nach dem anderen. Wie Alna einmal, so fragte sich auch Inanna jetzt, was wohl geschehen würde, wenn sie als einzige übrigblieb.
    Zwei Monate später, am Ende des Hochwassermondes, machte Inanna endlich ihren Frieden mit Rheti. Aber nicht das Flußfieber trieb sie zu diesem Schritt, sondern ihr Bruder Pulal.
     
    »
Mu
na
, kommt rasch und seht!« Ein Diener stürmte in den Raum. Sein Gesicht war vor Aufregung gerötet, und seine Augen funkelten. Inanna hatte schon seit einer Ewigkeit nicht mehr so viel Fröhlichkeit in einem Gesicht gesehen.
    »Was gibt es denn?«
    »Eine Regenwolke!«
    Auf dem Balkon waren die Fliesen so heiß, daß die Hitze durch die Sohlen ihrer Sandalen drang. Ein strahlend blauer Himmel, Felder von leeren Wasserkanälen durchfurcht und Ackerboden hart-gebacken wie Stein. »Nein,
Muna,
nicht da, sondern dort drüben!« Inanna wandte sich nach Osten und sah die Wolke. Schwarz und dick und mit dem Versprechen kommenden Regens angefüllt; groß genug, um den Fluß wieder aufzufüllen. Aber beim zweiten Blick bewegte sich etwas in Inanna, ein Hauch von Furcht, eine leise Warnung. Sonderbar, wie die Wolke am Boden zu hocken schien, wie sie sich waagerecht über das Land bewegte, statt zum Himmel emporzusteigen. Eine landgebundene Wolke? Wie merkwürdig, rätselhaft. Und dann begriff Inanna, womit sie es da zu tun hatte. Kein Regen trieb da heran, sondern dort hinten brannte ein gewaltiges Feuer.
    »Das ist Rauch.«
    »Was?«
    »Ich

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