Kornmond und Dattelwein
diesen Zug auf dem Gesicht ihres Bruders früher schon einmal gesehen, damals am Vulkan, als er die Opfer an die Götter ausgewählt hatte.
»Töte sie!« schrie Pulal und hielt Hursag die Axt hin. »Sie hat über uns alle Schande gebracht!« Hursag sah zuerst auf Lilith und dann auf die Henkerswaffe. Ein schweres Beil, das mit ineinander verwundenen Reben und fremdartigen, stilisierten Früchten verziert war. »Töte sie!« befahl Pulal wieder. Hursag nahm langsam die Axt, ließ sie aber dann zu Boden fallen und hockte sich daneben.
»Nein«, sagte er nur, »ich will es nicht.« Er wandte sich ab von seiner Frau, mied ihren Blick und riß die Ärmel seines Umhangs auf. Dann nahm er kalte Asche von der Feuerstelle und beschmierte sich damit das Gesicht und die Arme. »Ich beweine den Tod meines Sohnes«, murmelte der Alte. Er umschlang seine Knie und fing an, vor und zurück zu wippen. »Verloren. Alles verloren. Alles, alles verloren.«
Pulal spuckte in die Asche neben Hursag und hob seine Axt auf. Er hielt Lilith immer noch an den Zöpfen und zerrte sie vor die Füße von Enshagag.
»Halte deine Tochter«, herrschte er sie an, zog sie heran und legte ihr Liliths Zöpfe in die Hände. Enshagag hielt die Haare mit zitternden Fingern und warf unruhige Blicke in die Menge. Die alte Frau hielt Lilith so kraftlos, daß sie sich leicht aus diesem Griff hätte befreien und davonlaufen können. Aber Lilith schien vor Furcht starr zu sein. Sie hatte die Augen verdreht, bis nur noch das Weiße darin zu erkennen war. Sie kniete dort im Staub, und ihr Kopf war wie bei einem Schaf zurückgerissen, das geschlachtet werden soll.
»Lilith!« rief Inanna und bahnte sich mit derben Stößen ihren Weg durch die Menge, die sie von ihrer Schwester trennte. So etwas wie Erkennen huschte über Liliths Gesicht, als sie Inannas Stimme vernahm, und einen Augenblick lang schien sie wieder bei Sinnen zu sein. »Inanna«, sagte Lilith matt und streckte suchend die Arme aus, so als wollte sie etwas finden, an dem sie sich festhalten konnte. Pulal hob die Kupferaxt über ihrem Kopf, und an der Schneide brach sich das Sonnenlicht. Aber bevor er die Waffe auf Liliths Kehle hinabfahren lassen konnte, hatte Inanna die erste Reihe der Zuschauer hinter sich gebracht und sich vor ihre Schwester geworfen.
»Verschwinde!« fuhr Pulal sie an. Inanna sah trotzig zu ihrem Bruder hoch und umarmte Lilith. In diesem Moment trug sie die Miene einer Wölfin, die ihre Kinder vor einem Feind beschützen will. Und selbst Pulal ließ sich eine kurze Weile davon einschüchtern. Inanna umarmte Lilith fester und schützte den Körper der Schwester mit ihrem eigenen. Sie spürte die Kälte, die von Liliths Händen ausging, und wie das Herz der Schwester zu schnell schlug; wie das Herz eines kleinen Vogels, der Todesangst aussteht. Pulal starrte auf die zwei knienden Frauen vor ihm und begriff, daß er jetzt vor dem ganzen Stamm wie ein Trottel wirken mußte. Die Narbe auf seiner Wange verfärbte sich von purpurrot in ein blasses Weiß.
»Verschwinde!« brüllte er noch einmal. Inanna nahm Liliths Kopf zwischen ihre Hände und küßte die Schwester auf die Stirn. »Ich lasse es nicht zu, daß er dir etwas antut«, versprach sie. Lilith sah ihre Schwester an, und die übergroße Furcht stand immer noch in ihren Augen. Sie öffnete die Lippen, so als wollte sie etwas sagen, schloß sie dann aber wieder und sah nur Inanna an. Diese wollte ihr noch mehr Schutz und Geborgenheit geben, als sie plötzlich einen Schlag an den Kopf erhielt und zur Seite flog. Pulal vertrieb sie mit Schlägen mit der flachen Seite seiner Axt. Er verfluchte sie und beschwor Kur. Inanna vergrub ihre Finger tief in die Schulter der Schwester, als ein neuer Schlag ihren Kiefer traf und den Knochen zerschmetterte.
»Teuflin!« schrie Pulal und holte erneut zu einem Schlag aus. Diesmal traf die Axt das Mädchen am Oberarm und brach ihn an zwei Stellen. Inanna konnte Lilith nicht mehr greifen und fiel in den Staub. Sie versuchte, die kurze Strecke, die sie von ihrer Schwester trennte, auf dem Bauch zu kriechen, aber ihr Körper wollte sich nicht von der Stelle rühren. Durch einen Schleier aus Blut und Staub sah sie, wie Pulal weit mit der Axt ausholte und sie dann mit einem zischenden Rauschen hinabsausen ließ. Lilith stieß einen furchtbaren Schrei aus, den Inanna ihr ganzes Leben lang nicht mehr vergessen konnte. Dann fuhr ihr die Schneide der Axt tief in den Hals.
Inanna wandte sich ab und
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