Kornmond und Dattelwein
Höhle mit seinem Licht. Inanna schloß die Augen, aber das Licht ließ sich nicht vertreiben und schob sich in jede Faser ihres Körpers. Es war wie Honigwein, und sie war ganz trunken davon. Irgendwie schien Lilith zu ihr zurückgekehrt zu sein, aber auch im Traum wußte sie, daß so etwas unmöglich war, daß Tote niemals zurückkehren konnten.
»Inanna«, sagte eine Stimme. Die Stimme rief nach ihr. Sie schien aus ihrem Körper zu kommen, von der tiefsten Stelle ihres Gehirns; schien sich immer neu zu bilden und an die Oberfläche ihres Bewußtseins zu treiben. »Inanna, eine große Schlacht steht bevor, und du mußt dich bereitmachen, sie zu schlagen.« Die Worte hallten in ihr wider, und dann stieg ein anderes Gesicht aus der Dunkelheit auf. Das Gesicht einer Frau, so blaß wie bei einer Leiche, und ihr langes weißes Haar war strähnig und von Schmutz durch-zogen. »Das ist deine Feindin, Inanna«, sagte die Stimme. »Dir werden besondere Fähigkeiten zur Verfügung stehen, sie zu bekämpfen. Und das nicht nur in diesem Leben, sondern auch in allen, die noch kommen. Du bist die Auserwählte, die Meisterin. Ganz gleich, in welchem Körper du geboren wirst, erinnere dich stets deines wahren Ichs.« Die Worte verwirrten sie. Was für eine Feindin? Was für eine Meisterin? Was für Leben? Sie erinnerte sich an die Geschichte, die Lilith ihr einmal erzählt hatte, von der Frau aus Ki, die aus der Unterwelt auf die Erde zurückgekehrt war. Aber was hatte das alles mir ihr zu tun?
Das Gesicht verwandelte sich in eine weiße Rauchspirale, ver-
schwand, und wieder war Dunkelheit um sie herum. Sie streckte
die Finger aus und suchte nach etwas Vertrautem, an dem sie sich
festhalten konnte. »Ganz ruhig«, sagte die Stimme. Dann berührte etwas sanft ihre Lider, und ein Gefühl der Wärme durchflutete sie und saugte allen Ärger und Schmerz in sich auf. Ihre Verwirrung zerschellte und fiel von ihr ab. Ich bin glücklich, dachte sie. Sie ruhte und wiegte sich in einer unsichtbaren Umarmung. Nun war in diesem Traum alles so angenehm. Sie wünschte sich, er möge niemals enden. Ihr Bewußtsein trieb davon wie ein Blatt auf einem Fluß. Sie spürte, wie es weiter und weiter davon-trieb, und dann versank sie in Schlaf.
IV
Auf der Wiesenebene hatte das Gras unauffällig die kahlen Stellen zurückerobert, die die Zelte hinterlassen hatten. Inanna tauchte ein Stück Rinde in die gerösteten Eicheln und aß gemächlich davon, ohne dabei den Geschmack der Speise wahrzunehmen. Der Morgenwind blies kalt und frisch. Weiter unten im Tal graste eine Herde Steinböcke am Rande eines düsteren Wäldchens. Ihre gebogenen Hörner zeichneten sich wie Silhouetten vor dem Himmel ab. Alles hier wirkte so friedlich. Unvorstellbar, daß Lilith wirklich auf dieser Wiese zwischen den Wacholderbüschen und dem Fluß gestorben sein sollte. Ein Vulkan hätte sich aus dem Boden erheben sollen, um die Stelle, an der Pulal sie ermordet hatte, auf immer und ewig zu kennzeichnen, und der Himmel hätte mit Feuer und Asche angefüllt sein müssen. Aber statt dessen hüpften dort nur ein paar Zaunkönige herum und nährten sich vom Ölgras, und nicht weit davon sonnte sich eine Eidechse auf einem Stein. Nichts war zurückgeblieben, nichts war mehr da. Die Vorstellung hatte einen unerquicklichen Beigeschmack, wie Hunger im tiefsten Winter. Inanna stand rasch auf, um sich auf andere Gedanken zu bringen, und trat das Feuer aus. Vor ihr gabelte sich der Weg in zwei Richtungen. »Wohin soll ich gehen?« fragte sie den Vogel, der vor ihr auf einem Ast hockte. »Nach Osten oder nach Westen?«
Eine Weile später brach sie nach Osten auf und sagte sich bei jedem Schritt, daß es doch viel besser wäre, wenn sie zusammen mit der Schwester den Tod gefunden hätte. Diese Vorstellung war ihr in den letzten Wochen wieder und wieder gekommen. Die ganze Genesungszeit über war sie wie ein Stein in einem leeren Korb in ihrem Kopf hin und her gerollt, ohne je an ein Ziel zu gelangen. Und Inanna fragte sich, ob ihr Volk sie wohl für einen Geist halten würde. Wenn sie, bevor der erste Schnee fiel, durch die Berge gelangte und den Stamm Kur einholte, würden die Kinder dann bei ihrem Anblick schreiend davonrennen? Würden Enshagag, Dug und all die anderen Frauen vor ihr ausspucken und Kur zu ihrem Schutz anrufen? Immerhin hatten sie Inanna für tot gehalten und hiergenlassen, wie einen durchlöcherten, nutzlos gewordenen Korb. Und damit hatten sie eigentlich gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher