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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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so unrecht gehabt. Normalerweise hätte sie schon längst tot sein müssen. Inanna erinnerte sich daran, wie sie beim ersten Wiedererwachen festgestellt hatte, daß ihr Volk weitergezogen war. Ihr Arm hatte schlaff herabgehangen, und ihre Wange war so geschwollen gewesen, daß sie nur mit Mühe den Mund hatte öffnen können. Dabei hätte sie doch eigentlich verblutet oder von wilden Tieren gefressen sein müssen. Aber irgend etwas hatte das verhindert.
    Und dann tauchte immer wieder dieser Gedanke auf: Sie hatte sich selbst geheilt. Doch das war natürlich unmöglich. Wochenlanges Liegen in Koma und Schmerz mußte ihren Verstand verwirrt haben. Ärgerlich stieß sie ihren Wanderstab in den Boden und bemühte sich, sich auf den Weg vor ihr zu konzentrieren. Sie wollte nur noch den Pfad vor sich sehen und nicht mehr an Träume, Visionen, Pflanzen oder gebrochene Knochen denken. Einen Fuß vor den anderen, einen Schritt nach dem anderen. An nichts anderes mehr denken als ans Gehen und Vorankommen.
    Die Blumen des späten Sommers blühten in verschwenderischer Pracht am Rand des Weges, und in der Luft hing schwer der Duft von Zedernnadeln. Inanna spürte die Kraft in ihrem Arm, während sie den Stab hielt, und es war angenehm zu fühlen, wie fest die Finger sich um das Holz schlossen. Der Arm, den Pulals Beil zerschmettert hatte, wo der Knochen durch das Fleisch gestoßen war, die Fettschicht sich wie eine Gallertmasse präsentiert hatte, die Haut fortgerissen war. Als Inanna zum erstenmal ihren Arm so gesehen hatte, waren ihr die Sinne geschwunden. Hatte sie sich selbst geheilt? Eine solche Wunde selbst geheilt? Wen hatte Aung Dug stets dafür verantwortlich gemacht, den Geist der Menschen zu verwirren? Waren das nicht die Dunklen Götter, die ohne Beine waren und unter dem Wasser lebten? Begann so die Geistesverwirrung? Mit dem Gefühl, über Kräfte zu verfügen, die andere Menschen nicht besaßen?
    Dann blieb sie von einem Moment auf den anderen stehen, warf den Wanderstab fort und hielt die Linke hoch. »Ich bin Inanna, Tochter der Cabta und Weib des Hursag«, rief sie und sah trotzig auf den Stern in ihrer Handfläche, »und damit eine ganz normale Frau.« Ihre Stimme klang in der Bergluft so hell und klar, daß sie erschrak und einen Schritt zurückfuhr. Sie studierte die Handfläche, sah auf die Furchen und Rillen im rosafarbenen Fleisch und verfolgte die Biegungen und Wölbungen der Finger. Warum wollte sie es sich nicht zugeben? Seit Wochen schon hatte sie das Gefühl, alle Dinge würden mit ihr reden, sobald sie sie berührte. Blumen, Knochen oder Steine füllten ihre Ohren mit Geplapper, wie ein Schwarm Vögel, der sich in außerordentlicher Erregung befand. War sie wirklich von den Göttern gezeichnet? Nein, sie war nur zu lange allein gewesen. Höchste Zeit, diesem Unsinn ein für allemal ein Ende zu machen.
    Inanna bückte sich und pflückte eine der Blumen am Wegesrand. Viele Stunden hatte sie mit Lilith und den anderen Frauen des Stammes damit verbracht, Beeren für Färbstoffe, Kräuter für Medizinen und Rinden und Moose für Liebestränke zu sammeln. Aber die Blume, die sie nun in der Hand hielt, war nie darunter gewesen. Auch konnte sie sich nicht daran erinnern, eine solche Pflanze jemals gesehen zu haben. Vorsichtig hielt sie die Blume in der Hand und erfreute sich an ihrem Schweigen. Eigentlich war sie ein Nichts, ein kleines Gebilde aus Wurzeln, einigen wenigen Blättern und einer kleinen blauen Blüte. Hinter Inanna sangen Vögel in den Büschen, und die Sonne brannte heiß auf ihren Rücken herunter. Ein ganz gewöhnlicher Tag, an dem nichts, aber auch gar nichts ungewöhnlich war.
    Dann kam urplötzlich die Botschaft, und eine Gänsehaut lief Inanna vom Nacken bis zum Ende des Rückgrats hinunter.
Diese Blume setzt man gegen Fieber ein.
Inanna warf die Blume so abrupt fort, als sei sie von ihr gebissen worden, und wischte sich die Hand am Gewand ab. Von nun an konnte sie nicht mehr zum Volk der Kur zurückkehren. Sie drehte sich um und verfolgte ihren Weg zurück. Wie eine alte Frau schleppte sie sich mit ihren nackten Füßen Stück um Stück voran. Von den Göttern gezeichnet. Von den Göttern verflucht. Am Wegesrand verbeugten sich die blauen Blumen im Wind. Also mußte sie doch nach Westen, weit fort von den Zelten der Kur.
     
    Schakal, Wildkatze, Großer Bär und Panther lagen unsichtbar auf dem Felskamm und beobachteten die Frau, die den Weg hinunter und auf sie zukam. Im Morgengrauen

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