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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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fühlte sich sterbenselend. Sie schloß die Augen und bemühte sich, in die Ohnmacht zu entweichen. Vor allem wollte sie das Lächeln in Pulals Gesicht vergessen, das ihr so echt und tief empfunden vorgekommen war wie nie zuvor bei ihrem Bruder. Noch Jahre später verfolgte es sie in ihren Träumen und vermischte sich mit dem Geruch von Aprikosen und Blut. Und davon wachte Inanna regelmäßig am ganzen Leib zitternd und schweißgebadet auf. Dann verspürte sie einen Haß auf Pulal, der immer stärker wurde, bis er zu einem Strom anwuchs, der alles andere in ihr ertränkte.
     
    Rauch. Nein, nicht Rauch, sondern Vögel. Tausende Vögel, die sich in einer riesigen Spirale erhoben, sich drehten und sich drehten ... Inanna spürte das kalte Rauschen der Flügel auf ihrem Gesicht und öffnete die Augen. Die späte Nachmittagssonne sandte ihre stark geneigten Strahlen in dichter Folge durch das hohe Gras. Hursag kniete neben Inanna und verscheuchte mit einem Wacholderzweig die Fliegen. Sein Gesicht war eine komische Maske aus verlaufener weißer Asche. Der alte Mann weinte. Inanna sah, wie die Tränen sich in seinen Augenwinkeln formten und ihm dann über die Wangen liefen. Ein Geist, Hursag war nichts als ein Geist. Die Blumen auf der Wiese tanzten wie bunte Punkte vor ihr. Die Welt fühlte sich so dünn an, daß sie sich fragte, ob sie einen Finger hindurchstecken könnte und dabei auf so wenig Widerstand wie bei einem Spinnennetz treffen würde.
    Nur der Schmerz war echt. Wie die blaue Halbkugel des Himmels breitete er sich überallhin aus. »Du wirst wieder gesund«, sagte Hursag. »Und dann kommst du wieder zu mir.« Seine Stimme klang so hoch und dünn wie das Blöken des Lamms auf der Schieferwand. Als er ihre Hand hob und an seine Lippen führte, verließ sie ihren Körper. Einen Augenblick lang sah sie sich selbst aus großer Entfernung, wie sie auf der Wiese lag und Hursag neben ihr hockte. Starb sie gerade? Oder war sie schon tot?
    Sie wollte etwas berühren, aber nichts war da. Ein summendes Geräusch wie von einem Bienenschwarm füllte ihre Ohren an. Inanna erinnerte sich an den Honig, den sie und Lilith im letzten Herbst gesammelt hatten. Dicker, goldfarbener Honig, der einen Baumstamm hinabtropfte, an ihren Fingern kleben blieb und der sich nur noch mit Geduld und Mühe aus den Haaren entfernen ließ. Genug Honig für das ganze Volk. Sie hatten die Bienen ausgeräuchert und den Honig in Kürbisflaschen geschöpft. Später, als sie sich darüber hermachten, fanden sie die Königin. Sie klebte an einem Wabenstück und war in ihrem eigenen Honig ertrunken. Das Summen hörte abrupt auf, setzte sich dann aber heller und leichter fort. Inanna sah nun, daß sie in irgendeiner Höhle lag. Schwarze Felswände wölbten sich über ihr und waren so glatt und glänzend wie Obsidianspiegel. Wo war sie hier? Sie hatte diesen Ort nie zuvor gesehen. Als sie einen Arm ausstreckte, um die nächstliegende Wand zu berühren, entdeckte sie, daß das Licht in der Höhle aus ihrer Hand entsprang. Die Linien in der Handfläche wuchsen und pulsierten und schienen einen Stern zu bilden. Sie hielt einen Stern in der Hand. Aber das war doch nicht möglich. Sie versuchte, das Licht an der Wand abzureiben, aber es blieb in ihrer Hand. Seine Wärme strömte ihren Arm hinauf, das Rückgrat hinab und gelangte bis in die Fußsohlen. Dann schwebte ohne Vorwarnung plötzlich das Gesicht eines Mannes über ihr in der Luft. Er schien etwa dreißig Jahre zu zählen, hatte eine Hakennase, himmelblaue Augen und hochstehende, fremd wirkende Wangenknochen. Um den Hals trug er eine kleine, goldene Taube, wie die, die Hursag Lilith zur Hochzeit geschenkt hatte. Und er sah Inanna mit einer so intensiven Mischung aus Liebe und Betroffenheit an, daß sie ihm zurufen wollte, alles bei ihr sei in Ordnung. Sie wußte, daß sie diesen Mann nie zuvor gesehen hatte; also mußte sie träumen.
    Sie ließ sich treiben und den Traum sich ausbreiten. Über ihr dehnte sich das Gesicht des Mannes und kräuselte sich wie Sonnenschein auf dem Wasser. Andere Dinge traten an seine Stelle. Inanna sah dort Pulal, erkannte aber unterbewußt, daß dies nicht Pulal sein konnte. Es war jemand, der Pulals Augen hatte, aber in einem ganz anderen Körper steckte. Und sie sah sich selbst mit langem roten Haar, das ihre nackten Schultern bedeckte und wie ein Wasserfall ihren Rücken hinabfloß. Ein Traum. Nichts davon war wahr.
    Der Stern in ihrer Hand erblühte und füllte die ganze

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