Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
geraten waren. Und sollte sich irgendwer oder irgend etwas in diesem Gestrüpp verbergen, so war es überhaupt nicht auszumachen, war in diesem wogenden Rauschen perfekt getarnt. Die Wilden konnten sich hier überall aufhalten, konnten gemächlich ihre Zeit abwarten, bis Inannas Aufmerksamkeit nachließ, bis sie unvorsichtig wurde.
    Ein Fels bedeckt mit salzfarbenen Flechten und grauen Moosen ragte vor ihr auf, erhob sich wie ein überdimensionierter Schafskopf aus dem Gestrüpp. Wenn sie den bezwang, erkannte Inanna, hatte sie den eigentlichen Gipfel erreicht. Auf der anderen Seite breitete sich vor ihr ein neues Tal aus, grün und unscharf in der Ferne, und dahinter erhoben sich weitere Berge mit Gletschern und von braunem Sommerschnee bedeckte Gipfel. Irgendwo in dieser Richtung mußte das Große Tal liegen, wo die Menschen in Zelten aus Lehm lebten. Vielleicht waren dort Gewaltherrscher wie Pulal und nackte, stinkende Wilde unbekannt. Vielleicht konnte Inanna dort ihren Frieden finden. Aber wie weit mochte es bis dorthin sein? Konnte sie die Strecke ganz allein zu Fuß bewältigen?
    Inanna schüttelte den Kopf und wandte sich ab vom Anblick des nächsten Höhenzuges. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt schon darüber den Kopf zu zerbrechen. Viel wichtiger war es, aus diesem Wind zu kommen und sich etwas aufzuwärmen, bevor sie sich an den Weitermarsch machte. Diese Nacht wollte sie am Fuß des Bergs verbringen, und morgen ... Morgen würde es sich schon zeigen, was der neue Tag brachte.
    Inanna trat hinter den Fels und spürte sofort, daß der Wind sie nicht mehr erreichte. Als sie einmal zur Seite sah, entdeckte sie den Mann.
    Er lag auf dem Boden, sein Gesicht war ihr abgewandt, und einer seiner Arme war in unmöglichem Winkel ausgestreckt, so als sei er überrascht worden und hätte sich rasch hinfallen lassen. Inanna trat vorsichtig ein paar Schritte zurück, aber als sie das Blut auf dem Rücken des Mannes und in seinem Haar entdeckte, ließ ihre Angst rasch nach. Der Fremde war tot, oder zumindest so gut wie tot. Und das war auch kein nackter Wilder, der sie überfallen wollte. Sein Haar war nicht rot und schmutzverklebt, sondern schwarz und gelockt. Auch war er sehr groß, mindestens zwei Handbreit größer als die Männer von Kur. Und irgendwie wirkte er abgemagert und angespannt. Die Muskeln in seinen Armen waren schlaff, aber gut entwickelt wie bei einem Panther, und um den Unterleib trug er einen Rock, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Er hatte einen Saum und war aus einem Material gemacht, das dünner war als die feinste Wolle, und hatte eine leuchtende purpurrote Färbung wie bei wilden Weintrauben.
    Inanna trat einen Schritt vor und vergaß im Schein dieser fremdartigen und eigentümlichen Farbe jede Vorsicht. Der Mann stöhnte, regte sich ruhelos und drehte endlich sein Gesicht in ihre Richtung. Er hatte eine Hakennase und hochstehende, seltsame Wangenknochen. Sie hatte ihn schon einmal gesehen! Aber wo?
    Sein Gesicht war leicht uneben, und sein Bart wies eine leichte Grautönung auf. Er mußte älter sein, als sie ihn beim ersten Anblick geschätzt hatte. Neben einem Schnitt auf der Stirn hatte er auch im linken Bein eine tiefe, offene Wunde. Die Wunde war rot und geschwollen, und von ihr ging der Übelkeit erregende, süßliche Geruch von verfaulendem Fleisch aus.
    Inanna näherte sich dem Verwundeten und beugte sich vorsichtig über ihn. Nein, von ihm ging keine Gefahr aus. Die Haut war straff angezogen, die Lippen waren blau, und sein Puls ging so schwach, daß sie ihn kaum fühlen konnte. Vor dem Mondaufgang würde er schon gestorben sein.
    Aber was ging das sie an? Sie mußte weiter. Überall waren Anzeichen zu entdecken, daß die Wilden hier gewesen waren: Büschel von Kaninchenfell, Knochen oder eine zerbrochene Pfeilspitze. Die Sonne war bereits ein beträchtliches Stück gesunken, und die Kälte der langen Schatten kroch auf sie zu. Kein Baum stand hier, der ihr Schutz gewähren konnte, nur nackte Felsen, niedriges Gestrüpp und der immerwährende Wind. Man müßte ja nicht mehr bei Sinnen sein, an einem solchen Ort die Nacht verbringen zu wollen.
    Inanna trat aus dem Windschatten des Felsens, spürte die heftigen Böen und sah wieder das Tal vor sich. Doch dann drehte sie sich abrupt um, kehrte zu dem Mann zurück und beugte sich über ihn. Dieses Gesicht, wo hatte sie es schon einmal gesehen? Sie wollte den Mann erneut verlassen, als dessen Lider zuckten. Vielleicht würde er doch

Weitere Kostenlose Bücher