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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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ergossen sich von den moosbedeckten Felsbrocken. Inanna hielt inne, lehnte den Stab an die Wand und fing mit beiden Händen etwas von dem Wasser auf. Es war klar und kalt wie Schnee, und es schmeckte ein wenig nach Wacholder. Warum konnte sie an diesem Ort plötzlich fröhlich sein? Inanna drehte sich um und sah kurz auf den Weg, den sie gekommen war. Weiter unten wand sich der Pfad wie ein Schal aus brauner Wolle durch den Höhenzug. Die Wiesenebene war in der Ferne nur noch als grüner Fleck auszumachen. Gut, sie mochte von den Göttern verwunschen sein, aber in diesem Augenblick gab es nichts, was weniger wichtig war. Der Wind war frisch und steif und blähte ihr Gewand auf. Und er zauberte ein rosiges Rot auf ihre Wangen. Dann nahm Inanna den Stab wieder in die Hand und marschierte weiter auf das Stück blauen Himmels zu, vor dem sich die höchste Stelle des Passes abzeichnete.
    Und sie sang:
     
    Im Sternenland ist die Nacht wie der Tag
    Der Löwe geht dort nicht auf die Jagd
    Und der Wolf behütet das Lamm.
     
    Inanna war ganz in Gedanken versunken. Als sie wenige Augenblicke später aufsah, stand ein nackter Mann vor ihr.
    Stark verschmutztes rotes Haar war zu wirren Strähnen verklebt, die Knochenkeule in seiner Hand war blutbefleckt, und eine Kette aus Hyänenzähnen hing um seinen Hals. Sie wußte auf den ersten Blick, wen sie da vor sich hatte, und die Furcht stieg so mächtig in ihrer Kehle an, daß sie würgen mußte. Der nackte Wilde sah die Furcht in ihrem Gesicht und lächelte langsam und höhnisch. Aber sein Lächeln wirkte komisch und befremdlich zugleich, denn zwei seiner Vorderzähne fehlten. Dann griff er zielsicher zwischen seine Beine, nahm sein Geschlechtsteil in die Hand und begann, daran zu rubbeln. Und da sah Inanna es kurz vor ihrem geistigen Auge wieder: die toten Bäume, die aschebedeckten Felsen und die betrunkenen Männer, die auf dem Mädchen der Wilden lagen. Inanna drehte sich um und rannte los.
    Aber sie kam nicht weit, da stand plötzlich ein zweiter Mann auf dem Weg und hinderte sie am Weiterkommen. Sein Körper war von einer dicken Schmutzschicht überzogen, und er urinierte mit einem langen, trägen Strahl. Der Wilde kratzte sich am nackten Bauch und gab ihr Zeichen, die wohl bedeuten sollten, daß sie herzlich eingeladen sei näherzukommen. Dann plötzlich rannte er mit unglaublicher Geschwindigkeit auf sie zu und heulte dabei mit hoher Stimme wie ein Hund. Sie mußte die Wand hochklettern! Als sie nach einem Halt suchte, lösten sich etliche Steine unter ihren Knien, und Brombeerdornen verfingen sich in ihrem Gewand, so daß sie aus dem Gleichgewicht geriet. Wenn sie nur rechtzeitig nach oben gelangte, konnte sie wie ein Kaninchen durch das Unterholz verschwinden und so die beiden Wilden abschütteln. Kies und Erdreich prasselten auf ihren Kopf und ihre Schultern hernieder. Von oben rollten Steine auf sie zu. Inanna sah hoch und entdeckte, daß zwei weitere nackte Wilde den Hang hinunter auf sie zurutschten. Das war das Ende, sie saß in der Falle.
    Inanna glitt auf den Weg zurück, griff sich den Wanderstab und stellte sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand. Sie wollte nicht wie die Wildenfrau sterben, niedergeschlagen werden und sich die Unterlippe durchbeißen. Nein, sie wollte kämpfen. Und wenn die vier sie besiegt hatten, wäre nicht mehr viel von ihr übrig, das sich für die Wilden lohnen würde. Sie würde dann nichts mehr von ihnen spüren, denn dann wäre sie tot. »Ich habe ein Wolfsherz«, sang sie laut den näherrückenden Wilden entgegen. Die Männer von Kur dachten sich schon in der Knabenzeit ihre Todeslieder aus. Inanna mußte ihres jetzt aus dem Stegreif entwickeln. Es wurde dennoch ein gutes Lied, und sie fühlte die Kraft, die von ihm ausging. »Ich habe ein Wolfsherz, und ich kenne keine Angst.« Dem war wirklich so, die Furcht rann mit jedem gesungenen Wort aus ihr hinaus. Jetzt waren die Wilden so nah, daß sie den Gestank des Bärenfetts riechen konnte, mit dem sich diese Wesen einrieben. Sie schrie, so laut sie konnte, und rannte auf die vier zu.
    Die Wilden standen nur da, stützten die Hände in die Seiten und beobachteten sie. Plötzlich sprang einer von ihnen so rasch vor, daß sie die Bewegung kaum mitbekam, und wand ihr den Stab aus den Händen. Inanna spürte nur einen stechenden Schmerz im Handgelenk, und dann war sie unbewaffnet. Der Wilde boxte sie in den Rücken und schlug ihr ins Gesicht. Dann lachte er und verhöhnte sie,

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