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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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»Denn du mußt mir noch einiges erklären, zum Beispiel das hier, verstanden?«
    Seine Haut brannte heiß unter ihren Fingern. Er hatte wie ein Kind Arme und Beine angezogen, zitterte wie ein krankes Tier und starb langsam vor ihren Augen. Wie konnte sie sein Fieber brechen? Sie betrachtete das Sternenzeichen in ihrer Handfläche. Im Schein des Feuers war es kaum auszumachen. Wenn sie schon über die Macht verfügte, warum setzte sie sie dann nicht ein? Nichts anderes konnte den Mann mehr retten.
    Sachte und sanft legte Inanna dem Kranken ihre Handfläche auf die Stirn. Aber nichts geschah. Sie versuchte es ein weiteres Mal. Wieder nichts. Lange Zeit legte sie ihm immer wieder die Hand auf, aber je mehr sie sich bemühte, die Macht aus ihren Fingern strömen zu lassen, desto leerer fühlte sie sich. Endlich gab sie es auf. Sie hockte sich hin und sah dem Fremden ins Gesicht. »Anscheinend mußt du doch sterben«, erklärte sie ihm grimmig. »Es tut mir sehr leid, aber ich kann beim besten Willen nichts mehr für dich tun.«
     
    Stundenlang hockte sie da und sah zu, wie sich sein Zustand immer weiter verschlechterte. Das Fieber schien wie ein Feuersturm in ihm zu wüten. Er brüllte immer wieder und trat um sich, so als wollte er das Feuer löschen. Mehr als einmal mußte Inanna sich abwenden, weil sie nicht mehr die Kraft aufbrachte, Zeugin dieses Todeskampfes zu sein. Gegen Mitternacht ging der Mond auf, kletterte rasch über die höchsten Gipfel und schien kalt, weit fort und mit solcher Helligkeit, daß Inanna ihren Schatten sehen konnte. Wenn er wieder unterging, würde er den Fremden mitnehmen.
    Fieber. Fieber. Das Wort belästigte ihre Gedanken wie ein summendes Insekt. Inanna warf eine weitere Handvoll Reisig ins Feuer, und als das aufflammte, wußte sie wieder, wann und wo sie das Wort zuletzt gehört hatte: Heute auf dem Pfad, bevor sie sich nach Westen gewandt hatte, die blaue Blume, die sie ausgerupft hatte. Von ihr war doch das Wort Fieber gekommen, nicht wahr? Ja, jetzt erinnerte sich Inanna ganz genau. Wenn man aus dieser Blume einen Tee aufbrühte und den einem Fieberkranken zu trinken gab, wurde der wieder gesund. Dieser Gedanke war ihr gekommen, als sie die Blume in der Hand gehalten hatte.
    Inanna lief auf den Pfad zurück. Im Mondlicht entdeckte sie überall Büschel dieser blauen Blumen an den Felswänden. Ihre Blätter glänzten silbern und waren feucht vom Tau. Aber wenn sie wirklich der Heilung von Fieber dienten, warum war dann nicht schon längst jemand darauf gekommen? Inanna pflückte einige Blumen. Die Stengel fühlten sich in ihrer Hand kalt und glitschig an, und den Blüten entströmte schwach ein süßlicher Duft, der an zerdrückte Mandeln erinnerte. Warum hielt sie sich überhaupt mit so etwas auf? Inanna schob die Pflanzen in ihren Gürtel und pflückte noch weitere. Wahrscheinlich würde der Tee doch nicht helfen. Aber sie eilte zu dem Kranken zurück, goß etwas Wasser in eine Vertiefung im Fels, ließ einige heiße Kohlen hineinfallen und fügte dann die Blumen hinzu. Der Mann keuchte kurz und ruckhaft wie ein Läufer, der am Ende seiner Kräfte angelangt ist. Inanna flößte ihm den Tee ein, zwang Tropfen um Tropfen durch seine aufgeplatzten Lippen. »Hör endlich damit auf, dich gegen mich zu wehren!« schrie sie und hielt seine Hände fest, als er sie wegschieben wollte. »Du kriegst deinen Tod noch nicht! Zumindest heute noch nicht!«
     
    Das Sonnenlicht drang rot und warm unter ihre Lider. Ganz in der Nähe schimpften zwei Vögel aufeinander ein. Inanna setzte sich auf und bemerkte als erstes, daß das Feuer ausgegangen war. Dann fiel ihr Blick auf den Fremden. Er war natürlich schon tot. Sie fühlte sich mit einmal kraftlos und besiegt. Nach so vielen Mühen und solcher Anstrengung war sie am Ende doch gescheitert. Inanna stand auf und war etwas zornig auf den Fremden, weil er trotz ihrer Bemühungen gestorben war. Wahrscheinlich war es sowieso das beste für ihn zu sterben. Möglicherweise war es für jeden das beste, rasch zu sterben. In einigen Wochen würde sie sich vielleicht wünschen, an seiner Stelle gestorben zu sein. Ganz friedlich lag er da und hatte die Hände auf der Brust gefaltet, so als sei er gerade eingeschlafen.
    Aber was war das, hatte er sich da nicht eben bewegt? Jetzt bemerkte sie deutlich, wie der Fremde sich regte. Inanna eilte zu ihm und betastete seine Haut. Kühl und feucht, und der Puls ging regelmäßig. Das Fieber war verschwunden! Lange

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