Kornmond und Dattelwein
Zeit blieb sie neben ihm sitzen und konnte gar nicht glauben, daß er wirklich am Leben war. Und mehrere Male fragte sie sich, ob sie nicht gleich richtig aufwachen und ihn tot vorfinden würde. Aber dies war die Wirklichkeit. Einige Fliegen summten durch die Morgenluft. Die Vögel schimpften immer noch. Da lag der Fremde und schlief friedlich. Die goldene Taube um seinen Hals brachte ihr Lilith ins Gedächtnis zurück. Ihre Schwester hatte sie nicht retten können, aber bei diesem Mann wollte sie es versuchen. In ihrer Erschöpfung spürte sie eine Verbindung zwischen den beiden. Die Schwester hatte sie verloren, aber dafür den Fremden gefunden. Im ersten Fall war sie gescheitert, aber nun hatte sie eine neue Chance erhalten, um den zweiten zu retten. Diese Überlegungen waren natürlich sinnlos, aber Inanna konnte sie einfach nicht aus ihrem Bewußtsein verbannen.
Der Fremde drehte sich im Schlaf, öffnete den Mund und begann zu schnarchen. Inanna mußte an Hursag denken und lächelte. Sie bedeckte sich mit einigen Zweigen, legte sich neben den Fremden auf den harten Boden und schlief ein.
Wie besonders er war und wie fügsam, fast wie ein Kind. Manchmal versuchte er in den ersten Tagen mit ihr zu sprechen, und sie lauschte mit Wohlgefallen den fremden Worten. Sie erinnerten sie an Vogelgesang oder an Flötenspiel, flossen ohne erkennbare Bedeutung, aber wunderschön wie Musik. Als er bemerkte, daß sie ihn nicht verstand, zeigte er geduldig und sanftmütig auf die Dinge, so als wenn er sagen wollte: »Du kannst mir das Wasser bringen, oder auch nicht. Ganz wie du es möchtest, ich will dich zu nichts zwingen.«
Inanna war sehr verwundert darüber, daß er sie nicht ständig herumkommandierte und auch nicht ein einziges Mal zornig auf sie war. Hursag war zwar nur selten wütend geworden, aber schließlich war er schon so alt, daß ihn wohl kaum noch etwas aus der Ruhe bringen konnte. Er aß angebrannte Suppen und schien das nicht einmal zu bemerken. Aber dieser Fremde hier war kaum älter als Pulal, also noch jung genug, um ein Krieger mit dem leicht aufbrausenden Gemüt eines Kriegers zu sein. Inanna sagte sich schließlich, daß die lange Krankheit die Ursache für seine Art sein mußte. Nicht mehr lange, und auch er würde sie anbrüllen oder mit Holzscheiten nach ihr schlagen. Dann wüßte sie zumindest, daß er wieder gesund war.
Aber der Fremde lag immer nur geduldig da und aß das, was sie ihm vorsetzte. Als sie ihm dann nach einigen Tagen mit Gesten erklärte, daß sie weiter hinunter ins Tal zu einem wärmeren Ort ziehen wollten, ließ er sich ohne Widerstände von ihr über den beschwerlichen Pfad helfen, obwohl offensichtlich war, welche Schmerzen es ihm bereitete, wenn er sein krankes Bein belasten mußte. Waren denn überhaupt keine Empfindungen in ihm? Brannte keinerlei Feuer in seinem Herzen? Was war das überhaupt für ein Mann, wenn er überhaupt einer war?
Das Tal lag grün da. Überall wuchs kurzes Gras, aus dessen Mitte sich ein Wäldchen von Nußbäumen erhob, deren Zweige reichlich mit noch unreifen Früchten bedeckt waren. Als Inanna und der Kranke den Pfad hinunterliefen, sprangen Gazellen vor ihnen davon, und Vogelschwärme erhoben sich schwirrend in die Lüfte. Auf einem flachen Stein nahe einem kleinen See sonnte sich träge eine besonders große Schildkröte. Inanna erschlug sie rasch mit einem Stein und machte sich daran, den Panzer aufzubrechen. Sie war keine gute Jägerin, aber mit dem Fleisch der Schildkröte würden sie hier zumindest nicht verhungern. Sobald sie sich hier erst einmal eingerichtet hatten, würde sie Schlingen zum Vogelfang knüpfen. Als sie kurz von ihrer Arbeit aufsah, bemerkte sie, wie der Fremde sie mit einer sonderbaren Miene anstarrte, so als hätte er gerade in einen Gallapfel gebissen. Er zeigte auf die tote Schildkröte und schüttelte den Kopf. »Wir werden doch nicht etwa das da essen!« schien er sagen zu wollen. Inanna lächelte in sich hinein. Was war er doch für ein großes Kind, er schien ja überhaupt nichts zu wissen, weniger noch als normale Kinder. »0 doch«, machte sie ihm mit Gesten klar. Natürlich würden sie das Tier essen, und es würde ihnen schmecken. Schildkrötenfleisch war sehr schmackhaft.
Sie wusch das Fleisch, legte es auf einen Stein und watete ins Wasser, um Schilfrohr zu pflücken. Der Fremde saß am Ufer und sah ihr zu, wie sie die schlüpfrigen Halme rupfte. Der lange Weg hatte ihn sichtlich ermüdet, und er
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