Kornmond und Dattelwein
überleben, und wenn er lebte, konnte sie ihn fragen. … Was fragen? Was konnte sie ihn überhaupt fragen?
In einer späteren Zeit, als die beiden längst ein Paar geworden waren, fragte sich Inanna oft, was sie eigentlich davon abgehalten hatte, den Mann seinem Schicksal zu überlassen und weiter zu marschieren. Sie wußte nur, daß sie schon vom ersten Augenblick an ein besonderes Band zwischen ihr und ihm gespürt hatte; wie eine Motte am Licht hatte es sie an ihm gehalten.
Inanna schüttelte den Kopf. Sie war eine Närrin. Sie nahm den Wassersack vom Gürtel, kniete sich neben den Mann und fing an, ihm das getrocknete Blut aus dem Gesicht zu waschen.
Es hätte nicht viel gefehlt, und der Mann wäre in dieser Nacht gestorben. Aber es gelang Inanna, ihn am Leben zu halten. Auch als sie seine Wunden auswusch und ihn mit Zweigen und Moos bedeckte, damit er es warm hatte, schalt sie sich unentwegt eine Närrin. Jahre später noch erinnerte sie sich an die Kälte in jener Nacht. Harte, knochenharte Kälte, bei der ihre Finger schmerzten und der Atem ihre Kehle betäubte. Am stärksten war die Erinnerung an ihre Furcht gewesen, die Wilden könnten zurückkehren. Immer wieder nahm sie ihren Wanderstab und wollte weiterziehen. Das hier geht mich nichts an, dachte sie, er wird ja sowieso sterben. Aber regelmäßig fiel ihr Blick dann auf sein Gesicht, und das fesselte sie an diesen Ort. Wer war dieser Fremde? Was bedeutete er für sie? Ärgerlich warf sie den Stab zu Boden, kehrte zu dem Mann zurück, rieb seine Hände, um sie zu wärmen, und warf neues Holz ins Feuer. Sie war nicht nur eine Närrin, sie hatte vollständig den Verstand verloren. Jeder konnte deutlich erkennen, daß der Fremde vor Mitternacht ein toter Mann sein würde. Sie besah sich seine blauen Lippen und fühlte seine kalten Finger. Endlich gab sie auf und legte sich auf ihn, um mit ihrem Körper den seinen zu wärmen. Im Tal heulte ein Wolf. Die Sterne hoben sich wie kaltes Silber vom Himmel ab. Inanna schloß die Augen und fiel in einen ruhelosen und oberflächlichen Schlaf.
Irgendwann nach Mitternacht erwachte sie schweißgebadet. Nun strahlte der Fremde Wärme aus, Fieberhitze, und sein Stöhnen ertönte häufiger und war lauter. In seinem Delirium hatte er sich von den Zweigen und Moosen freigestrampelt. Und nun schrie er etwas in einer Sprache, die Inanna nicht kannte. Sie erinnerte sich daran, daß die Männer von Kur, wenn sie schwer verwundet waren, immer am Fieber starben.
Sie stand auf, warf neues Holz ins Feuer und setzte sich mit verschränkten Beinen neben den Fremden. Seine Lippen waren spröde und rissig, und er zitterte am ganzen Leib. Das Blut pulsierte rasch durch seinen Hals, und er schien Schwierigkeiten mit dem Atmen zu haben. Was für eine Verschwendung. Alle ihre Anstrengungen, und er würde doch sterben, noch bevor sie eine Gelegenheit erhalten würde herauszufinden, wer er eigentlich war. Der Mann stöhnte und hustete. Nun, zumindest konnte sie es ihm etwas bequemer machen.
Inanna zog den Stöpsel aus dem Wassersack und ließ etwas von der Flüssigkeit auf seine rauhen Lippen rinnen. Dann beugte sie sich vor und öffnete seinen Umhang. Um seinen Hals hatte sich eine Wollschnur verdreht und schnitt ihm den Atem ab. Vorsichtig suchte Inanna den Knoten der Schnur, band ihn auf und nahm sie von seinem Hals.
Etwas glitzerte vor ihr im Feuerschein, schaukelte vor ihren Augen hin und her und war ihr im ersten Augenblick völlig unbekannt. Dann erkannte sie jedoch die winzigen und ausgebreiteten goldenen Schwingen, den Schnabel, den zurückgebogenen Kopf und die Federn. Eine Taube, ganz genau wie die, die Hursag Lilith am Hochzeitstag geschenkt hatte. Inanna erinnerte sich daran, wie ihre Schwester an jenem Morgen ausgesehen hatte, als sie in ihrem neuen braunen Gewand aus dem Brautzelt getreten war. Sie erinnerte sich an Liliths Lächeln, daran, wie sie sich umarmt hatten und an das tiefe Gefühl des Friedens, das sie miteinander teilten, wenn sie zusammen waren.
»Wer bist du?« schrie sie den Kranken an und warf die Taube neben ihn auf den Boden. »Welcher teuflische Fluch eines Gottes hat dich zu mir gesandt?« Beim Klang ihrer lauten Stimme öffnete der Fremde die Augen, aber kein Erkennen war in seinem Blick, sondern nur Krankheit und Furcht. Inanna stand vor ihm und starrte ihn stur an. »Ich werde dich am Leben erhalten, ob du das nun willst oder nicht!« Sie hob die Taube wieder auf und band sie ihm um den Hals.
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