Kornmond und Dattelwein
fest an sich heran und versuchte, seine Furcht vor ihr zu verbergen. Aber das war ja lächerlich. Nur durch einen Zufall hatte Inanna Rheti beschrieben. Er machte sich zuviel Gedanken um nichts. Aber die Furcht wollte nicht vergehen, blieb wie ein kalter Stein in seinem Magen.
»Inanna«, sagte er und zwang sich zu einem beruhigenden Tonfall, »wie könnte dich ein Feind an einem Ort erwarten, an dem du noch nie gewesen bist?« Er lächelte sie an, und etwas von seiner Furcht verging.
»Ich weiß es doch auch nicht. Ich habe nur das Gefühl, ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben, nur . . .« Ihre Stimme erstarb, und dann legte sie den Kopf an seine Schulter. Er streichelte ihr Haar, bis sie wieder ganz ruhig war, und mit ihrer Ruhe kehrte die seine ebenfalls zurück.
»Wenn dich die Halskette so beunruhigt, mußt du sie ja nicht tragen.«
»Nein, jetzt ist alles wieder gut.« Ihr Blick wurde klar, und sie lächelte. »Du hast sicher recht, wahrscheinlich bilde ich mir das alles nur ein. Hier.« Sie reichte ihm die Kette und blieb still sitzen, während er sie ihr anlegte.
»Wie fühlst du dich jetzt?« fragte er.
»Gut. Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist.« Das Gold lag auf dem Fleisch an ihrem Halsansatz und strahlte wie ein See aus gelbem Licht. Enkimdu berührte Inanna mit den Fingerspitzen. Dann glitt seine Hand unter ihr Gewand. Er spürte, wie ihr Atem schneller ging, und auch sein eigener beschleunigte sich. »Du bist mir wichtiger als mein Volk«, sagte er ihr.
»Und du bist mir wichtiger als das meine.«
Der Frühling ließ in diesem Jahr nicht lange auf sich warten. Explosionsartig breiteten sich auf den Berghängen die Blumen aus. So hatte sich Inanna immer den Frühling vorgestellt, wenn jemand davon erzählte. Und sie erinnerte sich an den feuchten Geruch der Erde, an die ersten blassen Halme des neuen Grases und an die Zaunkönige, die in den Büschen rund um die Hütte nisteten. Sie erinnerte sich an das Anschwellen des Sees vom schmelzenden Schnee, an die vielen Frösche, die sie die ganze Nacht über wachhielten, an den Bären, der eines Abends zum Trinken ans Wasser tappte, noch matt und hungrig vom langen Winterschlaf. Am deutlichsten aber erinnerte sie sich an die Mandelbäume, deren Zweige glatt und naß vom Regen waren, an die vielen Blüten und an die Staubgefäße, die zu Boden fielen und bei jedem Windstoß wie ein Schneesturm wirbelten. Körbeweise sammelte sie Blüten ein und brachte sie in die Hütte. Sie hängte sie überall auf und bedeckte auch Enkimdu damit. Und als er aufwachte, fand er sich unter einem Blumenmeer begraben.
»Es wird Zeit, die Reise zu beginnen«, erklärte sie ihm. Auf den Gipfeln schmolz der Schnee und legte den blanken Fels frei. Der Pfad, der sich zwischen den Felsblöcken hochwand, war nun vom Hütteneingang deutlich auszumachen. Einen Augenblick lang stand Inanna da, sah zu den Bergen und dachte an die Frühjahre, die sie schon erlebt hatte. Die schwarzen Zelte der Kur, die Menschen, die ihre Winterkleider fortpackten, die neugeborenen Lämmer, die unbeholfen ihren Müttern hinterher eilten, und die Kinder, die barfüßig durchs Lager rannten. Wie sollte sie es nur ertragen können, nie mehr dorthin zurückzukehren, nie wieder jemanden aus ihrem Stamm zu sehen?
»Was hast du denn?« fragte Enkimdu. Sie sah die Mandelblüten in seinem Haar und mußte lachen. Was war sie doch für eine Närrin, über Dinge zu grübeln, die sie nicht hatte, wenn sie hier doch so reich war. »Woran denkst du?« fragte Enkimdu.
»Ich mußte daran denken, daß eine Frau, deren Ehemann auf sie wartet, am besten mit ihrem Geliebten in die entgegengesetzte Richtung aufbricht.« Sie lachten beide, und er legte den Arm um sie. »Nun erzähl mir doch noch einmal, wie hoch die Mauern um deine Stadt sind.«
»Höher als zehn Männer und so breit, daß oben eine ganze Armee marschieren kann.«
»Und dein Volk lebt wirklich das ganze Jahr an einem Ort?« »Du wirst es ja sehen.«
»Und es stimmt, daß ihr Stadtmenschen die Frauen verehrt?« Er lächelte sie an und pflückte ihr ein Büschel halb geöffneter Blüten. Die Kelche hingen wie Stücke neuer Wolle von den Halmen, und in ihrem Innern war reichlich goldener Pollen zu sehen.
»Ja, meine kleine Göttin«, sagte er und steckte ihr die Blumen ins Haar. Sie legte ihm einen Arm um die Hüfte, und schweigend standen sie da und sahen auf ihr Tal. An den Pappeln waren die ersten Blätter aufgetaucht, und im
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