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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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leckten Inannas Hände, und die Kinder umschwärmten sie lärmend und lachend. Sie roch Ziegenfleisch, das über Feuern geröstet wurde, und beobachtete stumm, wie die Frauen ihre Körbe absetzten, die Arme hochrissen und auf sie zu-rannten und sie umarmten. »Inanna, die Frau von Hursag, ist von den Toten zurückgekehrt!« riefen sie einander zu. Einige berührten vorsichtig Inannas Gesicht, so als fürchteten sie, sie könnte auf der Stelle verschwinden, sich in einen Wassergeist verwandeln oder unter ihren Fingern dahinschmelzen. Selbst die Männer lächelten sie an, als wäre sie eine kostbare Statue. »Wie hast du allein den Winter überlebt, Weib von Hursag?« fragten sie höflich und freundlich. Inanna starrte ihre alten Freunde und Nachbarn an, die sie erwartungsvoll umringten. Sie ließ den Blick über die vertrauten Zelte streifen, über die Kochfeuer, die Hunde und die Kinder. Sie wollte etwas sagen, wollte ihnen erklären, wie sehr sie sie vermißt hatte, wie sehr ihr ihr Volk gefehlt hatte. Und so bald schon würde sie ihr Volk wieder verlassen und mit Enkimdu in seine Stadt ziehen. Sie wollte ihr Volk wissen lassen, daß es stets einen Platz in ihrem Herzen behalten würde. Aber die Worte verknoteten sich in ihrer Brust, verschnürten sich in ihrer Kehle. »Bist du gesund?« fragte einer. Inanna öffnete den Mund, aber kein Wort kam über ihre Lippen. »Sie ist müde, das seht ihr doch«, rief ein anderer. Die Umstehenden breiteten eine Decke aus und setzten sie wie ein kleines Kind darauf.
    »Sieh nur, wer da kommt, um dich zu begrüßen«, sagte Pulal.
    Ein alter Mann rannte auf sie zu. Seine Arme und Beine waren so dünn wie dürre Zweige, und er wirkte so zerbrechlich, als könnte ihn schon der leiseste Windhauch zu Boden werfen. »Meine Liebe«, rief der Alte mit hoher, zittriger Stimme. Tränen standen in seinen Augen, als er sich hinkniete und sie umarmte. »Gepriesen sei der große Kur, daß er dich endlich zu mir zurückgeschickt hat!« Inanna starrte ihn nur verblüfft an und konnte es gar nicht glauben, wie sehr er im Winter gealtert war. Pulal packte sie am Handgelenk und drückte so fest zu, daß ihre Knochen schmerzten. »Diesmal bleibt sie endgültig bei dir«, versprach er Hursag.
    Ich habe mich die meiste Zeit von Eicheln und Nüssen ernährt, und von Wildzwiebeln, wenn ich welche gefunden habe. O ja, viele Nußbäume standen dort. Ob ich allein war? Natürlich war ich allein. Angst? Selbstverständlich. Wo das Tal liegt, in dem ich den Winter verbracht habe? Nun, das ist weit weg von hier. Irgendwo dort hinten.« Eine unbestimmte Geste. »Ich weiß nicht einmal genau, in welcher Richtung es liegt. Ich war schon Wochen unterwegs, als mein Bruder mich fand.«
    Den ganzen Tag saß sie in Hursags Zelt, beantwortete immer wieder die gleichen Fragen und nahm die kleinen Geschenke entgegen, die die Leute ihr brachten: einen Kamm, ein Stück bunt gefärbter Wolle, einen Brocken gelbes Quarz. Den ganzen Tag über, während sich die Schatten der Zeltstange verkürzten und dann wieder verlängerten, wob sie eine plausible Geschichte, in der sich keinerlei Hinweis auf Enkimdu fand.
    »Was für ein Glück für dich, daß dein Bruder durch einen Zufall auf dich gestoßen ist«, sagte ein junger Mann namens Hisim verwundert und klatschte in die Hände. Schüsseln mit Ziegenfleisch wurden herumgereicht, zusammen mit Schläuchen voller gegorenem Honig.
    »Ja«, stimmte Inanna zu, »da habe ich wirklich großes Glück gehabt.« Pulal nahm ein Stück Fleisch aus einer der Schüsseln und hielt es zwischen zwei Fingern. Die Soße tropfte träge in die Schüssel zurück. Im Zelt herrschte ein solches Gedränge, daß sich niemand mehr so recht bewegen konnte. Und noch mehr Menschen standen draußen vor den geöffneten Zeltklappen.
    »Du hattest keinen Feuerstab bei dir, als ich dich gefunden habe«, sagte Pulal. »Und du warst ohne Nahrungsmittel. Sag mir doch, wie es möglich ist, ohne Vorräte auf Wanderschaft zu gehen?« Inanna sah ihn offen an. »Heute morgen habe ich mein Bündel in einem Fluß verloren. Wenn du mich nicht entdeckt hättest, wäre ich sicher bald verhungert.«
    »Dann verdankst du ihm ja dein Leben!« rief jemand.
    Inanna senkte den Blick. Jetzt hieß es, Demut und Dankbarke' vorzutäuschen. »Mein Bruder war schon immer der Liebling der Götter.« Die Menge murmelte zustimmend. Pulal schob sich das Stück Fleisch in den Mund und begann leidlich zufrieden darauf herumzukauen. Gut, sie

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