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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Inanna völlig rätselhaft vor, und er sagte sich, daß ihre Denkart sich so sehr von seiner unterschied wie die eines Wolfs oder einer Gazelle. Eines Nachmittags kam er früher als erwartet zur Hütte zurück und fand Inanna vor, wie sie vor Haufen von getrockneten Pflanzen und Borkenstücken hockte. Und sie machte eine Miene, wie er sie noch nie an ihr gesehen hatte. So erregt, fast schon gierig, so als wären diese Laubhaufen von unschätzbarem Wert.
    »Was machst du mit dem Zeug da?« fragte er sie.
    »Es redet mit mir.«
    »Redet mit dir?«
    »Nun, die Pflanzen reden nicht im eigentlichen Sinn mit mir, aber wenn ich sie berühre, spüre ich allerlei. Wie bei diesen hier.« Sie hob eine Handvoll Wacholderbeeren hoch und hielt sie ihm entgegen. »Wenn ich sie berühre, spüre ich, daß sie Bismaya helfen können.«
    »Bismaya?«
    »Eine alte Frau aus meinem Volk. Ihre Hände und Füße sind so geschwollen, daß sie kaum noch hinaus kann, um die Ziegen ihres Gatten zu melken. Wenn ich aus diesen Beeren für sie einen Tee kochen würde, würden ihre Schwellungen abklingen.«
    Er erzählte ihr von Rheti, der Hohepriesterin der Stadt, die für sich in Anspruch nahm, in die Zukunft sehen zu können. »Verhält es sich bei dir so ähnlich? Siehst du auch Dinge?«
    »Nein.« Sie schob die Pflanzen in ihre Tasche zurück und verpackte einige davon in kleine Rohrpäckchen, die sie wohl während seiner Abwesenheit gebastelt hatte. »Gibt es viel Krankheit in deiner Stadt?« fragte sie ihn schließlich.
    »Das Flußfieber bricht regelmäßig aus, wenn der Wasserspiegel absinkt«, antwortete er. »Einmal, als meine Mutter noch ein Kind war, hatten wir eine große Pest, und so viele Menschen starben daran, daß die Begräbnisfeuer tagelang ohne Unterbrechung brannten. Damals raunten sich die Stadtbewohner zu, dies sei die Rache von Hut, weil wir damit aufgehört hatten, ihr Opfer zu bringen.«
    Sie sah die ganze Zeit über mit ihren grünen Augen zu ihm auf und blinzelte dabei nicht ein einziges Mal. Sie erinnerte ihn an eine Eule. Dann öffnete sie eins der Päckchen und schüttete ein paar kleine blaue Blumen auf ihre Handfläche. »Ich denke, die hier heilen das Flußfieber.«
    Er wollte ihr erklären, daß nichts gegen das Flußfieber half, aber sie wußte schon, was er sagen wollte, bevor er den Mund geöffnet hatte.
    »Du glaubst mir nicht, oder?«
    »Nein«, gab er zu.
    »Ich bin mir selbst nicht so ganz sicher.« Als sie die Verblüffung in seinem Gesicht sah, mußte sie lachen. »Einen Kuß«, sagte sie. »Gib mir einen Kuß.« Die blauen Blumen lagen vergessen auf dem Boden. Später sah er Inanna draußen, wie sie den Schnee fort-scharrte und nach neuen Blumen suchte.
     
    Er schnitzte einen kleinen, kunstvollen Kamm aus einem Knochen und verbrachte Stunden damit, ihr das Haar zu kämmen und sich dabei ihrer Gegenwart hinzugeben. Es schien sie zu amüsieren, wenn er sie auf diese Weise berühren wollte. Sie erzählte ihm, daß er sie manchmal an ihre Schwester erinnerte. »Ich glaube, in dir verbirgt sich eine Frau, Enkimdu«, meinte sie einmal, als sie beide gerade aßen. Er war sich nicht sicher, was sie damit sagen wollte. Einerseits schien es so zu sein, als wären in ihrem Volk nur die Frauen sanft, andererseits spürte sie, daß ihr etwas an dieser Zärtlichkeit mißfiel, daß sie sich ihrer zu schämen schien. Er hatte Inannas Sprache erlernt und sie die seine, aber wie wenig wußten sie schon voneinander. Enkimdu versuchte sich vorzustellen, wie ihre Kindheit ausgesehen haben mochte: ständig von Ort zu Ort zu ziehen, in einem Zelt leben, das im Winter kalt und im Sommer stickig war, und nie wirklich genug zu essen haben. Und erst ihr Gatte, der sie doch angeblich mit Kleidung und anderen Gegenständen versorgen sollte! Man brauchte sich ja nur anzusehen, in welchen Lumpen Inanna herumlief. Ein altes Wollgewand, das aussah, als sei es aus einem Getreidesack gemacht. Er malte sich aus, wie sie wohl in einem Leinenkleid und einem guten Paar Sandalen an den Füßen aussehen mochte. Das würde ihr Würde verleihen, und auch Schönheit. Niemand würde sie dann eine Wilde nennen, nicht einmal seine Mutter, die immer Abscheu für die Nomaden empfunden hatte. Sie seien schmutzig, pflegte seine Mutter zu sagen, und hinterlistig und gefährlich. Aber wenn seine Mutter Inanna erst einmal sehen würde ...
    »Ich möchte dich im Frühjahr in meine Stadt mitnehmen«, erklärte er ihr eines Nachmittags. Den halben Tag

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