Kornmond und Dattelwein
See begann das Schilf zu erblühen. »Wir könnten am nächsten Vollmond von hier aufbrechen«, sagte er. Sie nickte leise. Ja, sie sollten wirklich bald aufbrechen. Es gab keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Sie sah noch einmal auf den See, die Mandelbäume und die Berge. Sie würde diesen Ort vermissen, und sie fragte sich, ob er in diesem Moment das gleiche dachte.
Am nächsten Tag war es unerwartet warm. Inanna erwachte vom fröhlichen Gesang der Vögel. Das Sonnenlicht schien durch die Ritzen im Schilf der Hütte, und die Luft roch nach jungem Gras, feuchter Erde, Wind und klarem Wasser. Sie streckte sich und sah durch den Eingang auf den See. Als sie aufstehen wollte, zog Enkimdu sie zurück und küßte sie schläfrig.
»Wo willst du hin?« fragte er sie.
»Den Weg hinauf zu der Stelle, an der wir uns zum erstenmal gesehen haben. Ich möchte mich von dem Ort verabschieden.« Seine Finger fuhren durch ihr Haar, und er küßte sie wieder. »Ich vermisse dich in jedem Augenblick, in dem du nicht da bist«, sagte er.
»Auch wenn ich nur ganz kurz fort bin?«
Er nahm ihre Hand in die seine und berührte den kleinen Stern im Zentrum ihrer Handfläche. »Selbst wenn es nur für eine so winzige Zeitspanne wie dieses Mal hier wäre, würde ich dich vermissen«, antwortete er.
»Ich bin doch bald wieder zurück.« Noch mehr Küsse, und als Inanna endlich aufbrach, stand die Sonne schon in voller Größe über den Gipfeln der Berge. Der Aufstieg war länger und steiler, als sie in Erinnerung hatte, aber der Morgen war so schön, daß ihr das nicht viel ausmachte. Während sie sich den alten Pfad hinaufarbeitete, überquerte sie immer wieder schmale Wasserläufe von geschmolzenem Schnee, die quer über den Weg rannen, unter Felsen Tümpel bildeten und als kleine Wasserfälle über Ränder und Klippen stürzten. Die verbliebenen Schneeflächen waren löchrig und schmutzig. Und darüber spannte sich ein klarer, blauer Himmel ohne eine einzige Wolke. Vorbei an den verkrüppelten Wacholderbüschen, hinauf zum Gipfel. Und da war er schon, genauso wie sie ihn in Erinnerung hatte. Der große Felsbrocken, kahl wie ein Greis, saß wie ein finsterer Wächter auf der Spitze des Pfades. Hinter ihm, im Windschatten, fand sie das, wonach sie gesucht hatte: einige Stücke verkohltes Holz von ihrem ersten Feuer, einen Streifen von Enkimdus Sandalen und die Knochen des erlegten Hasen, die nun spröde und moosbewachsen waren. Ja, alles war noch so wie damals. Sie legte eine Hand auf die Stelle, an der sie Enkimdu gefunden hatte, verwundet auf einem Stück feuchten Felsbodens, das sich in nichts von der Umgebung unterschied. Aber geweihter, heiliger Boden, von nun an für immer Bestandteil ihres Lebens. Sie hätte nicht fortziehen können, ohne diesen Ort noch einmal zu sehen.
Später, als sie gegessen und sich ausgeruht hatte, umrundete sie den Felsen, stellte sich in den kalten Wind und sah hinab ins Tal. Die Hütte wirkte so klein und unbedeutend, so als hätte ihrer beider Aufenthalt kaum einen Eindruck in der Landschaft hinterlassen. Der Gedanke ließ sie zittern, und sie wandte sich rasch ab. Eine kleine Blume, die vom Wind zur Seite gedrückt wurde, wuchs aus einer Felsspalte. Eine rote Blüte und ein gräulich grüner Stengel. »Wir sind beide Narren, uns in dieser Kälte aufzuhalten«, erklärte sie der Pflanze.
Die Blume bog sich und schwankte und drohte unter jedem neuen Windstoß zu zerbrechen. Ihre Wurzeln klammerten sich in den Fels und erzwangen sich ihren Weg in den Stein. Verwunderlich, wie sie sich hier halten konnte. »Sag mir, wie du das machst«, sagte sie und griff spielerisch nach der Blume. Als ihre Hand den Stengel berührte, schoß ein Gefühl der Panik durch ihren Arm bis in ihr Herz, verbrannte sie und ließ sie um Atem ringen. Sie hatte eine Vorahnung von schrecklicher Gefahr, die mit jeder Minute näher kam. Hastig ließ Inanna die Pflanze los und steckte die Finger in den Mund. Verdammt, wie töricht von ihr. Sie hatte an eine Nessel gegriffen.
Dann sah sie den Mann, der an dem Hang hinter ihr stand. Er trug ein flammfarbenes Gewand, und auf seinem Gesicht war ein Lächeln, das nichts Freundliches oder Angenehmes an sich hatte. Inanna erkannte es sofort wieder.
»Ich dachte schon, du wärst tot«, sagte Pulal und trat auf sie zu. Inanna starrte ihn wie betäubt an, konnte sich nicht mehr regen und war unfähig an etwas anderes zu denken, als daß sie träumte. Pulal überquerte rasch die
Weitere Kostenlose Bücher