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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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saß. Sie sah Inanna bittend und ernst an. Große Erschöpfung stand in ihren Augen; fast so etwas wie das Wissen um die bevorstehende Niederlage. »Wo hast du die Goldtaube her?«
    Inanna zog sich die Kehle zusammen. »Mein Geliebter hat sie mir gegeben«, stammelte sie endlich. Aber sie hielt dem Blick der Königin trotzig stand. Die Taube gehörte ihr. Enkimdu hatte sie ihr geschenkt, und niemand würde sie ihr je wieder fortnehmen.
    »Und wo hält er sich nun auf, dein Geliebter?« Die Stimme der Königin hatte sich auf eigentümliche Weise verändert. Sie klang nun alt und brüchig wie das Rascheln toten Laubs.
    »Er ist tot. Mein Bruder hat ihn erschlagen.«
    Die Königin stöhnte und riß die Hände vors Gesicht. Sie schien völlig in sich zusammenzufallen und wirkte nun wie ein kleines Kind mit dem Aussehen eines Greises. »Und wie hieß dein Geliebter?« flüsterte sie.
    »Enkimdu.« Wie schwierig es war, dieses Wort auszusprechen. Es kam ihr so vor, als würde ihrem Leib etwas unendlich Kostbares entrissen, etwas, daß nur ihr ganz allein gehörte. »Sein Name war Enkimdu. Habt Ihr ihn gekannt?«
    Die Königin fuhr zurück, als sei ein Blitz in sie eingefahren. »Ja«, ächzte sie, »ich habe ihn gekannt. Enkimdu war mein Sohn.«
     

II
    Hoch oben im Palast, hinter verhangenen Fenstern und dicken Wollvorhängen saß die alte Königin ganz allein in einer Kammer und dachte an den Tod. Es war mitten im Winter, und der Regen donnerte unaufhörlich aufs Dach, riß Schindeln los und trommelte, daß es wie das Getöse der Festpauken klang, die sie als kleines Mädchen einmal gehört hatte. Tief unter dem Balkon war der Fluß so angeschwollen, bis er einem großen Untier ähnelte, ein vielhöckriges Ungeheuer, das gegen die Wände und Wälle anschlug. Die Königin spürte, wie der Palast unter diesem Ansturm zitterte. In den untersten Vorratsräumen stand das Wasser bereits so hoch, daß es einem Mann bis an den Nabel reichte ... Wenn der Regen bis zum Frühjahr so weiterfiel, so warnten die Ratgeber der Königin, würden vielleicht die Fundamente des Palasts unterminiert. Seit Menschengedenken war kein solcher Regen mehr gefallen.
    Ein Omen, dachte die Königin müde, während sie die halbfertige Statue vor ihr betrachtete. Und dann hatte sie plötzlich Angst um das Kind, das an diesem Morgen geboren wurde. Zwar im Palast, aber doch so weit entfernt, daß die Schreie der Mutter die Königin nicht stören konnten.
    Mein Enkelkind, dachte die Königin, die einzige Frucht, die noch von diesem uralten Baum gekommen ist. Inanna ist mir sehr ans Herz gewachsen. Sie hat meine Priesterinnen gut in der Heilkunst unterwiesen. Eine geborene Heilerin, wie ich noch keine zuvor gesehen habe. Die Königin studierte das Gesicht der Göttin, das unter ihren Fingern Formen annahm. Möge Lanla Inanna eine möglichst sanfte Geburt schenken.
    Die Königin lehnte sich zurück und verlor sich in ihren Erinnerungen. Wie rasch ihre eigenen Kinder zur Welt gekommen waren. Fast schmerzlos waren sie zwischen ihren Beinen hervorgeglitten, direkt in die Arme der Hebamme. Der Schmerz war erst später eingetreten, als sie alle gestorben waren, bis auf einen: Enkimdu.
    Und nun war auch er tot, und sie selbst war eine alte Frau geworden. Wie lange war es her, daß sie sich zum letztenmal mit ihrem Sohn gestritten hatte?
    Sie hatte ihm verboten, aus der Stadt zu gehen, und er hatte es trotzdem getan. Ein stolzer und sturer Bursche, aber das hatte er wohl von seiner Mutter. Und er hatte recht gehabt. Sie hatte ihn zu sehr behüten wollen, aber von ihren zwölf Kindern war er das einzige, das ihr geblieben war. Ihr einziges Küken, der letzte Abkömmling ihres Blutes. Und dann waren sie im Streit auseinander gegangen. »Geh doch deine dummen Löwen jagen!« hatte sie ihm gesagt. »Ist mir doch gleich, wenn Hut dich in ihre Arme nimmt!« Und Hut hatte ihn genommen.
    Tränen traten ihr in die Augen. Sie warf das Messer mit solcher Wucht auf den Tisch, daß es abprallte und auf den Boden fiel. Morbide, törichte Gedanken! Ihr Verstand war wohl schon zu alt und wunderlich geworden, wenn sie so in ihren Erinnerungen schwelgte. Sie hatte es stets ungeduldig gemacht, wenn ihre Großmutter ihre letzten Jahre mit nichts anderem verbracht hatte, als die Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzurufen. Gab es in dieser Zeit nicht schon genug Ärger, daß sie es sich leisten konnte, alten wieder aufzuwärmen? Sie mußte wieder an Inanna denken, die gerade darum

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