Kornmond und Dattelwein
dreizehn Jahren seinen Schild Lanla geweiht hat.«
Seb senkte den Blick und machte eine ernste Miene. Im trüben Licht ähnelte er Enkimdu mehr als je zuvor.
Sellaki gönnte sich die letzten Oliven. Als sie sich danach erhob, standen alle anderen auch auf. »übrigens habe ich eine Nachricht«, sagte sie und sah Inanna an. »Für dich, aus dem Palast. Die Königin möchte dich gleich morgen früh empfangen.«
Verflucht sei dieser Seb! Warum mußte er sie immer wieder überraschen, wenn sie am wenigsten damit rechnete? Als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug, stand er an ihrem Lager und beugte sich gerade über sie. Im noch nicht ganz wachen Zustand hätte fast ihr Herzschlag vor Freude ausgesetzt, als sie dieses Gesicht über sich sah. Er wäre gekommen, sagte er, sie zum Palast zu begleiten, und es täte ihm sehr leid, sie schon vor Sonnenaufgang wecken zu müssen, aber die Königin sei nun einmal eine Frühaufsteherin. Wie unschuldig er aussah, als er dort an ihrem Bett stand, in seinem weißen Umhang und nur der winzigen, goldenen Mondsichel als Halsschmuck: Enkimdu hatte nie so ausgesehen. Großer Kur, was war nur los mit ihr? Sie konnte doch nichts daran ändern, daß er das Gesicht eines anderen hatte!
Inanna folgte ihm die Straße hinunter zum Palast und war dabei ganz in Gedanken verloren. Die einzigen, die schon auf waren, waren alte Männer und Frauen, die die Rinnsteine mit Strohbündeln ausfegten. Sie hätte lieber an die Königin denken sollen, hätte sich fragen sollen, wie der Hof von ihrer Ankunft erfahren hatte, hätte sich überlegen sollen, was die Herrscherin eigentlich von ihr wollte. Vielleicht hatte irgendein Händler ihr Gesicht wiedererkannt und der Königin zugeflüstert, daß dies die Schwester von Pulal sei, dem gefährlichen Häuptling der Kur, dem schlimmsten Feind der Stadt. Sicher würde man sie verhören, vielleicht auch foltern und womöglich hinrichten. über diese Dinge hätte sie sich Gedanken machen sollen. Aber statt dessen kreiste alles in ihrem Kopf um Seb. Sie sah ihn am liebsten von hinten an, denn dann ähnelte er Enkimdu am wenigsten.
•1 last du neben Ev und Talin noch weitere Brüder?« fragte sie ihn plötzlich, als sie nicht mehr weit von den Palasttoren entfernt waren.
»Nein«, antwortete er lächelnd, »nur noch Schwestern.« Ich bin verrückt und besessen, dachte Inanna. Welchen göttlichen Fluch habe ich nur auf mich geladen? Die Wachen am Tor salutierten und ließen sie ohne weiteres passieren.
»Siehst du, du wirst schon erwartet«, erklärte Seb.
Der Palast kam ihr vor wie ein leerer Bienenstock. Unzählige Gänge, die sich kreuzten oder abrupt kehrtmachten. Hohe Decken. Lehmböden, glatt wie Eis. An den Wänden Tauben, Gazellen, Möwen und alle Arten von Fabelwesen. Die Leiber waren gemalt, nur anstelle der Augen waren Juwelen und andere bunte Edelsteine eingelassen. Vogelkäfige und Lehmlampen hingen an Haken vor den Fenstern. Während sie durch den Palast gingen, konnte Inanna immer wieder kurze Blicke in Zimmer werfen, die mit feinen Strohmatten ausgelegt waren, auf sonnige Lichthöfe und auf Springbrunnen, die in der frühen Morgenluft sprudelten. Sie dachte an Hursags Zelt, das größte im ganzen Lager, dachte an ihr reich besticktes Gewand, dachte an Pulals verzierten Herrscherstab. Wie krude das alles gegen die Pracht hier wirkte. Warum gab es im ganzen Stamm Kur nicht einen Gegenstand, der sich mit dem geringsten Wandbild in diesem Palast vergleichen ließe?
»Hier entlang.« Seb führte sie eine Treppe hinunter in eine Reihe unterirdischer Räume. Diese hatten kleine, schlitzartige Fensteröffnungen direkt unter der Decke, um wenigstens etwas Licht hineinzulassen. Hier unten war es angenehm kühl, und das Licht tat den Augen wohl. Endlich blieb Seb vor einem glatten, weißen Leinenvorhang stehen, der lediglich mit einer einzigen, kleinen Taube verziert war. »Ich warte hier draußen auf dich.«
Inanna schob den Vorhang beiseite und fand sich in einem hohen Raum mit Steinboden wieder. Vor ihr saß eine alte Frau auf einem Hocker. Neben ihr war eine große Kupferlampe. Sie modellierte aus nassem Ton über einem Gerüst aus Weidengeflecht eine Statue. Inanna erkannte in ihr sofort die Alte aus dem Olivenhain wieder. »Ich sollte hier eigentlich die Königin treffen«, sagte Inanna. Die alte Frau legte einen Tonklumpen beiseite und wischte sich die Hände an einem Stück weißen Tuchs ab. Ihr Gewand war aus einem exotischen
Weitere Kostenlose Bücher