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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Seidenmaterial gewebt und leuchtend rot gefärbt. Goldene Ringe hingen an ihren Ohren. An den Armen waren schwere Reifen, die über und über mit Lapislazuli und fremdartigen Edelsteinen bedeckt waren.
    »Ich bin die Königin«, sagte die Alte nur. Als sie die Verwirrung auf Inannas Miene bemerkte, brach sie in lautes Gelächter aus. »Komm näher, mein Kind«, sagte sie, »und hab keine Angst. Woher hättest du es auch wissen sollen.«
    Inanna spürte, wie sie vor Verlegenheit rot anlief. Warum hatte ihr denn niemand etwas davon gesagt? Und warum war sie nicht von allein darauf gekommen? So viele Anzeichen hatten doch dafür gesprochen.
    »Noch näher«, befahl die Königin. Inanna trat so nahe heran, daß sie das brennende Öl in der Lampe und den erdigen Geruch des Tons riechen konnte. Als sie nur noch einen Schritt vor dem Hocker stand, beugte sich die Königin plötzlich vor und legte eine Hand auf Inannas angeschwollenen Bauch.
    »Wie geht es dem Baby?«
    »Gut.« Obwohl ihr ganz anders zumute war, lächelte Inanna. Die Königin lächelte zurück und strich ihr noch einmal freundlich über den Bauch. Nun ja, sie war ja auch nur ein Mensch und unterschied sich darin von keinem anderen Bürger der Stadt. Vielleicht würde ja doch noch alles gut werden.
    »Komm, setzt dich zu mir.« Die Königin zeigte auf einen zweiten Hocker neben der Lampe. Sie klatschte in die Hände und ein Diener trat aus dem Schatten und brachte ein Tablett mit Honigkuchen und süßem Wein. Irgendwo begann ein unsichtbarer Musiker, auf der Leier zu spielen. Die klagende Melodie war so alt, daß man annehmen konnte, sie stammte aus der Zeit, als es noch keine Menschen auf der Welt gegeben hatte. Die Königin bot Inanna Speise und Trank an.
    »Also«, sagte sie, lehnte sich etwas zurück und faltete die Hände vor den Knien, »ich habe dich aus zwei Gründen an diesem Morgen zu mir hergebeten. Als erstes wollte ich dir danken, weil du mir bei den Oliven das Leben gerettet hast. Du hieltest mich für eine schäbige Bettlerin, nicht wahr?«
    Inanna verfärbte sich wieder. »Nein, doch, das heißt ...« Warum machte sie sich nur unentwegt selbst zur Närrin? Und wie um das Maß voll zu machen, verschüttete sie auch noch ihren Wein. Die Königin mußte sie für eine Wilde halten.
    »0 doch, das hast du gedacht. Aber du hast mir dennoch geholfen. Und das hat mir sehr gefallen.« Ein kurzes breites und freundliches Lächeln. »Und eine Bezahlung wolltest du nicht haben. Das hat mir sogar noch mehr gefallen.«
    Inanna überlegte fieberhaft, was sie jetzt sagen könnte, aber die Zunge schien sich in ihrem Mund verfangen zu haben. Die Königin gab dem Diener ein Zeichen, Inannas Kelch wieder aufzufüllen, und erzählte dann weiter, so als hätte sie nie eine Antwort erwartet.
    »Zweitens habe ich dich zu mir kommen lassen, weil du dich für mein Volk als nützlich erweisen könntest.« Plötzlich wurde ihre Miene düster, und sie hielt für einen Moment inne. Inanna trank von dem Wein und fand seinen Geschmack sonderbar. Honig war auf der Zunge viel süßer. Als sie wieder aufsah, fand sie sich von der Alten gemustert.
    »Hast du den Tempel schon gesehen?«
    Inanna dachte an die roten Fliesen, die hohe Treppe und den Jungen mit dem Korb voller Tauben. »Nur von draußen.«
    »Aha, also nur von draußen. Dann hast du nicht die Heilbänke gesehen, auf die wir unsere Kranken legen, oder die Priesterinnen, die sie versorgen? Du hast nicht die gehört, die ihre toten Kinder beweinen, oder die Männer, die die Göttin anflehen, ihnen bei ihren rasenden Schmerzen einen schnellen Tod zu schenken? Und du weißt auch nicht, was hier geschieht, wenn der Fluß Niedrigwasser führt, wenn die Fische tot im Uferschlamm liegen und die Binsen faulen?«
    »Nein«, antwortete Inanna. Eine furchtbare Stille kehrte in den Raum ein. Sogar die Musik hatte aufgehört. Die Königin nahm einen kleinen Klumpen Ton und fing an, ihn gedankenverloren zwischen den geschwollenen Fingern hin und her zu rollen.
    »Ein Fieber steigt aus dem Niedrigwasser. Mein Volk nennt es den Tod.« So wie sie das Wort aussprach, lief ein Schaudern über Inannas Rücken. Die Königin schwieg lange. Dann atmete sie tief durch und schüttelte den Kopf. »Als ich noch ein kleines Mädchen war, kam eines Tages eine alte Frau in die Stadt, um Kohl zu verkaufen. Jemand entdeckte die Male des Todes an ihr. Sie schoben sie durch das Tor zur Stadt hinaus, aber noch ehe das Jahr vorüber war, war die Hälfte

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