Kornmond und Dattelwein
der Bevölkerung am Fieber gestorben. Ich kann mich heute noch an die Beerdigungsfeuer erinnern, die den ganzen Fluß entlang brannten. Meine Mutter beweinte drei von meinen Schwestern. Keine Familie, die nicht wenigstens ein Mitglied verlor. Das kann man sich gar nicht vorstellen.« Ihre Augen leuchteten vor Erregung. »Ich möchte diesen Anblick nie wieder sehen müssen.« Sie streckte eine Hand aus und legte sie auf Inannas Arm. »Ich möchte, daß du meine Priesterinnen deine Heilmethoden lehrst. Nimm alles, was du willst, als Bezahlung, aber lehre sie. Hast du mich verstanden?«
Aber ich weiß doch eigentlich gar nichts, dachte Inanna. Irgendeine Macht durchströmt mich, und ich weiß nichts über sie. Das sollte ich der Königin sagen. Aber als sie die alte Frau ansah, brachte sie es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Soviel Hoffnung stand in den Augen der Königin. Was machte es schon aus, woher ihre Heilmethoden kamen, wenn sie nur überhaupt kamen.
»Wirst du meine Priesterinnen lehren?«
»Ja.« Inanna hörte, wie sie dieses Wort aussprach, und wußte im selben Augenblick, daß sie sich damit der Stadt verschrieben hatte. Auf Gedeih und Verderb mußte sie nun hierbleiben.
Die Miene der Königin wurde wieder weicher. »Gut, dann sollst du im Palast leben, nahe an meiner Seite. Und wenn du niederkommst, schicke ich dir meine Frauen, die dir helfen sollen.« Sie klatschte laut in die Hände und rief: »Seb!« Der weiße Vorhang teilte sich. Seb trat in den Raum und grüßte förmlich die Königin. Die Alte wandte sich wieder an Inanna. »Ich unterstelle dir meinen Neffen als persönlichen Schutz«, sagte sie, und dann zu Seb: »Du läßt sie keinen Augenblick lang unbewacht. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Tante.« Wieder der Ehrengruß. Inannas Blick traf den von Seb. Doch sie sah rasch in eine andere Richtung und verwünschte sich für ihre Gedanken.
»Warum brauche ich einen persönlichen Schutz?« fragte sie die
Königin.
»Warum, na, weil Gefahren auf dich lauern, warum sonst?« »Gefahren?«
»Von Rheti der Hohepriesterin und ihrer Gefolgschaft. Von all denen, die sich zuraunen, ich würde es der Dunklen Göttin Hut gegenüber an der nötigen Ehrerbietung mangeln lassen. Aber du wirst gut beschützt, deshalb fürchte dich nicht. Seb sorgt für al-
les.«
»Aber ich verstehe nicht. Warum sollte Rheti mir Schaden zufügen wollen? Ich kenne sie ja nicht einmal!«
Die Königin seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich merke, du verstehst nichts von Politik und Palastintrigen. Deshalb hier nur soviel: Von dem Augenblick an, in dem ich dich zur Lehrmeisterin meiner Tempelpriesterinnen gemacht habe, schwebt dein Leben in Gefahr. Finde mir ein Mittel gegen den Fiebertod, und du kannst von mir verlangen, was du willst. Gold, schöne Männer, ein großes Haus. Was immer du willst.«
Ich brauche keinen Moment lang zu überlegen, was ich am liebsten möchte, dachte Inanna, nämlich Pulal tot sehen. Sie hob den Kopf und sah die Königin an. Aber das kann ich ihr nicht sagen: noch nicht. In ihrer Handfläche fühlte sie etwas prickeln. Eine Warnung! Das Licht in dem Raum veränderte sich. Schwärze umgab sie von allen Seiten wie die Wände eines Tunnels. Und an dessen Ende sah sie die Königin wie ein Licht am Grund eines Brunnens sitzen.
»Komm näher«, sagte die alte Frau. Ihre Worte hallten unheimlich wider, und die Armreife funkelten und rasselten wie silberne Glöckchen. Inanna trat vor und mühte sich, gegen ihre Trance anzukämpfen, versuchte, die Macht in ihr fortzuschieben. Halb verrückt vor Angst sah sie sich zur Königin hin getrieben wie eine Schwimmerin, die gegen ihren Willen von einer Woge davongetragen wird. »Und ich habe dich aus einem letzten Grund zu mir bestellt«, erklärte die alte Frau. Ihre Augen waren nun wie die eines Falken, leuchtend und scharf, und die Schatten hinter ihr an der Wand flatterten wie große Schwingen. Etwas Furchtbares findet gleich hier statt, dachte Inanna.
»Als meine Neffen Ev und Talin dir beim Bad geholfen haben, fiel ihnen auf, daß du so etwas trägst.« Ihre Stimme klang schwer und rauh. Sie zeigte auf den kleinen Goldklumpen an ihrem Hals, und Schmerz zuckte heftig über ihr Gesicht. »Nur den Mitgliedern der königlichen Familie ist es gestattet, die Goldtaube von Lanla zu tragen.«
Von einem Augenblick auf den anderen war die magische Veränderung vorüber, und die Königin war wieder nur eine alte Frau, die auf einem Arbeitsschemel
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