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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Schlaf.
     
    Sie erwachte mit dem Gefühl, daß etwas Böses ins Zimmer getreten war. Etwas Kaltes und Bedrohliches. Von irgendwo kam ein sonderbares blaues Licht und warf unheimliche Schatten an die Wände. Inanna konnte ihren Atem sehen wie damals in den Bergen im tiefen Schnee. Sie wollte sich aufsetzen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Wie betäubt waren ihre Arme und Beine und schwer wie Felsgestein. Sie war ans Bett gefesselt, war festgefroren wie der Fisch, den sie und Enkimdu einmal gesehen hatten, der an derselben Stelle einen ganzen Winter lang schwimmen mußte. Die Furcht drohte ihr, die Kehle zuzuschnüren, brach alle Kraft in ihr und erzeugte in ihr nur noch den Wunsch, gellend aufzuschreien. Aber wenn sie schrie, würde sie damit das Kind aufwecken. An ihren Brüsten spürte sie immer noch die pulsierende Wärme, die Alnas Körper entströmte. Also war alles doch nur ein Traum. Sie wiederholte diese Worte in ihren Gedanken und schloß die Augen vor dem blauen Licht. Wie lange würde es dauern, bis dieser Traum vorüber war? Aber das Gefühl der Präsenz des Bösen wurde schlimmer, kam näher, umzingelte sie.
    »Das ist also das Kind.«
    Inanna öffnete die Augen und sah über sich eine Frau, die weißeste Frau, die ihr je begegnet war. Nicht nur ihr Gewand war von dieser Farbe, sondern auch das Haar, das ihr wie ein gefrorener Wasserfall über die Schultern fiel. Auch ihr Gesicht war blaß wie Eis, aber gleichzeitig so makel- und faltenlos wie das eines jungen Mädchens. Eine Erinnerung erwachte in Inanna und tobte in ihrem Kopf wie ein Sturm. Die Gegenwart schmolz, und darunter lag die Oberfläche eines weiteren bösen Traums, der ihr vor langer Zeit gekommen war; eine Vision, in der dasselbe Gesicht erschienen war und in dem eine Stimme geflüstert hatte:
Dies ist dein größter Feind, Inanna.
Weiße Brauen, weiße Augen. Sie ist blind! dachte Inanna. Furcht stieg in ihr hoch; kalte, dunkle, bodenlose Furcht. Die weißen, sichtlosen Augen starrten sie an, und das erinnerte sie an die Schlange, die sie einmal dabei beobachtet hatte, wie sie vor einem Vogel hin und her getanzt war und ihn vor Furcht gelähmt hatte, bis sie zum tödlichen Stoß bereit war.
    Die Frau riß die Decken herunter und suchte nach dem Kind. Kalte Finger berührten Inannas Körper und brannten wie Eis auf ihrer Haut. »Geh weg!« schrie Inanna, aber über ihre Lippen kam nur ein rauhes Flüstern, denn die Furcht schnürte ihre Kehle zu. Sie wollte sich umdrehen, wollte Alna beschützen, aber sie war hilflos. Was für ein gräßlicher Traum! Die Weiße hielt einen kleinen, zylindrischen Stein in der Hand, der mit seltsamen Zeichen versehen war. Ein Stück aus Jade, durchsichtig wie ein Blatt, zierlich und auf eigentümliche Weise schön.
    Die Frau drückte ein Ende des Steins auf Alnas Stirn. »Sie gehört mir.« Als sie den Stein wieder wegnahm, blieb ein Mal auf der Kopfhaut des Kindes zurück: eine Schlange, die sich soweit zurückbeugte, daß sie ihren eigenen Schwanz verschlang.
    »Laß sie in Ruhe! Wage es nicht, sie anzufassen!« Inannas Stimme fuhr wie ein Hammer durch die Stille im Raum. Die Kraft erwachte in ihr, bekämpfte das Böse und drängte es fort. »Wage es nicht, mein Kind zu berühren!« Plötzlich konnte sie die Arme wieder bewegen. Sie stieß die Weiße fort. »Hinaus mit dir!«
    Inannas Finger glühten in einem blendenden weißen Schein. Energie strömte aus ihrem Körper und errichtete eine Barriere zwischen Alna und der Weißen. Die Frau wollte einen Schritt nach vorn machen, prallte aber ab, so als sei sie gegen eine unsichtbare Mauer gestoßen. Ihre dürren Finger fuhren wild durch die Luft. Sie wirkte jetzt wie eine große, weiße Spinne, die blind und hilflos von der Macht fortgedrängt wurde, die aus Inannas Händen kam.
    »Also besitzt auch du die Macht!« zischte die Frau. »Aber sie wird dir wenig nutzen. Wenn die Endschlacht ansteht, ist dir der Untergang gewiß! Hast du mich verstanden?« Ein blasser Finger zeigte auf den Vogelkäfig am Fenster. Die Taube darin schlief und hatte den Kopf unter einen Flügel gesteckt. »Sieh dich vor, Inanna von Kur!« rief die Weiße. Die Taube riß den Kopf hoch, und während Inanna erschrocken zusah, pickte sich der Vogel mit wilden Schnabelhieben. Blut spritzte auf das Gefieder. Die Taube griff ihre Flügel an, zerfleischte ihre Beine, riß sich die Brust auf und das in einer Weise, bis nur noch ein blutiger, regloser Klumpen von ihr übrig war ..

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