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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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liebsten wäre sie aufgesprungen und wäre wie ein junges Mädchen durchs Zimmer getanzt. Also war Inanna am Leben und gesund, und ebenso das Kind! Sie hatte eine Enkelin! Sie stellte sich vor, wie sie das Kind auf dem Schoß sitzen lassen wollte, und eine mächtige Zärtlichkeit wogte in ihr auf, ganz so wie die Mutterliebe einer Löwin. Die Königin hob das Messer wieder vom Boden auf und kehrte eifrig an ihre Arbeit zurück. Ihre Finger flogen nur so über den nassen Ton. Das wird eine schöne Lanla-Statue, dachte sie glücklich, die beste, die ich je gemacht habe.
    Inanna hörte dem Regen zu, während das Kind sich an ihre Brust drängte. Sie war erschöpft, aber überglücklich, etwas so Großartiges geschafft zu haben. Hinter ihr zischten sich die Hebammen allerlei zu, während sie aufwischten und aufräumten und die Vorhänge schlossen, um das grelle Tageslicht abzuhalten. Ihre orangefarbenen Gewänder tanzten wie Flammen um Inanna herum. Eine von ihnen blieb plötzlich stehen und beugte sich über sie. Eine schmale Frau mit grauen Augen. Sie zog vorsichtig die Decke zurück und betrachtete das Kind in Inannas Armen.
    »Wie hart es saugt«, bemerkte die Amme. »Das zeigt, daß sie einen starken Willen haben und eine große Kriegerin werden wird.« Sie schwieg und sah Inanna sonderbar an. »Was für ein Glück für dich, eine Tochter zu gebären,
Muna.«
    Zu einem späteren Zeitpunkt sollte Inanna sich an diese Worte erinnern, und auch an den merkwürdigen Blick der Amme, aber in diesem Moment verspürte sie nur Müdigkeit. Sie war wieder wie ein Kind und trug keinerlei Verantwortung.
    »Erzähl mir eine Geschichte«, sagte sie. Irgendwie dämmerte es ihr, daß sie nur Unsinn redete, aber sie hatte eine Tasse mit Wein und Kräutern zu sich nehmen müssen, um die Schmerzen zu lindern, und nun trieb sie am Rande ihres Bewußtseins dahin. »Lilith«, sagte sie und betrachtete das Kind, »bist du Lilith?«
    »Ich heiße Amarga,
Muna«,
antwortete die grauäugige Amme, da sie glaubte, die Frage sei an sie gerichtet gewesen.
    »Lilith sagte, sie wolle zu mir zurückkommen.«
    Die Hebamme legte Inanna eine kalte Hand auf die Stirn. »Du solltest jetzt schlafen.«
    Eine nach der anderen verließen die orangefarbenen Frauen das Zimmer. Ihre Sandalen klapperten auf den Fliesen, als sie durch den langen Flur schritten. Inanna war allein. Nein, nicht allein. Etwas Lebendiges bewegte sich auf ihr und saugte und lutschte an ihrer Brust wie ein junges Lamm. Ihr Kind, Enkimdus Kind. Die Liebe überspülte sie wie eine riesige Woge.
    Sie mühte sich hoch, bis sie sitzen konnte. Der Raum schien sich um sie herum zu drehen, machte sie schwindeln, ließ alles uneben erscheinen. Und wenn ihr das Kind entgleiten würde? Vorsichtig setzte sie sich das Kind auf den Schoß und wickelte die Windeln ab. Wie winzig die Finger des Neugeborenen waren. Inanna strich mit der Fingerspitze behutsam über die kleine Kuppel des Bauchs vom Kind und fühlte die flaumhafte Weichheit seiner Haut. Alles war perfekt, weder ein Mal noch ein Kratzer war auf ihm zu erkennen. Enkimdus hohe Wangenknochen und Liliths dunkles Haar. Aber ihre Tochter. Und auch, wenn dieses kleine Wesen nicht die zurückgekommene Lilith war, selbst wenn sie sich das nur in ihrer Phantasie vorstellte, so war es doch immer noch ein unvergleichliches Wunder. Plötzlich verstand sie, warum die Stadtbewohner jetzt die Göttin Lanla verehrten. Wer konnte auf ein Neugeborenes sehen, ohne dabei Ehrfurcht vor dem Leben und den Geheimnissen der Natur zu verspüren?
    Inanna hob das Kind und küßte es sanft auf die Stirn.
Willkommen, neues Leben!
    begrüßte sie es in der Sprache der Schwarzköpfigen.
    Ich gebe dir den Namen Alna.
    Das Baby ballte die Fäuste, riß den Mund auf, gähnte und starrte Inanna an, als würde es sie erkennen. Alna. Der Name bedeutete ›Reisende‹. Schließlich ist sie ja von weither gekommen, dachte Inanna, und ich möchte, daß sie sich daran erinnert, wenn sie älter ist. Dann will ich ihr von den Bergen erzählen und davon, wie die Zelte der Kur aussehen, wenn die Morgensonne immer noch hinter den Zedern verborgen ist. Und ich will ihr die Geschichten erzählen, die ich von Lilith gehört habe. Von der Wolfsfrau und von Utu und seinem goldenen Boot. Vor allem aber will ich ihr von ihrem Vater erzählen.
    Draußen hatte der Regen aufgehört, und auf der Fensterbank gurrte eine Taube im Flechtkäfig müde. Das Baby lag an der Brust. Friede. Ruhe.

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