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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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du zur Kaserne kommst, um dir einen Gefangenen anzusehen, den die Soldaten in der letzten Nacht in den Hügeln aufgebracht haben.«
    »Und warum soll ich dorthin?«
    »Das hat sie nicht gesagt.«
    »Aber Alna ist noch nicht fertig mit ihrer Mahlzeit.«
    »Dann nimm sie doch mit.«
    Die Kaserne bestand aus zwei langen Reihen von gewöhnlichen Rundhäusern, die von einer Mauer umgeben waren, über die jedes Kind ohne Mühe hätte steigen können. Im Zentrum der Anlage lag eine freie Fläche, die in trockeneren Zeiten als Exerzierplatz diente. Heute hingegen wirkte er mehr wie ein großer Tümpel. Inanna war etwas enttäuscht von der Kaserne. Sie hatte sich etwas Großartigeres darunter vorgestellt, etwas, das mehr an die Pracht des Palasts erinnerte. Schon seit langem hatte sie sich vorgenommen, zur Kaserne zu gehen und Lyra zu bitten, sie in die Kriegskünste einzuführen, um sich in die Lage zu versetzen, ihren Bruder Pulal zu bekämpfen, sobald die Zeit dazu gekommen war. Warum hatte sie so lange damit gewartet? Sie dachte an Lilith und Enkimdu, und der alte Haß stieg wieder in ihr auf, so bitter und hart wie eh und je. Alnas Geburt hatte ihren Rachedurst eine Zeitlang überdeckt, aber nicht ausgelöscht. In einer Ecke des Exerzierplatzes übte sich ein halbes Dutzend Frauen in voller Rüstung. Sie waren so sehr mit Schlamm bedeckt, daß man sie auf den ersten Blick für überdimensionierte Schildkröten halten konnte. Ihre roten Federbüsche waren naß und verklebt, aber auf den Gesichtern der Frauen zeigte sich Einsatzwille und Kampflust. Bald würde auch Inanna unter ihnen sein.
    »Hier hinüber«, sagte Seb und führte sie durch den knöcheltiefen Schlamm. Vor dem ersten Gang blieb er stehen und zog das Stück Stoff beiseite, das über der Öffnung angenagelt war, um den Regen abzuhalten. Flackernde Scheite. Der Geruch von nassem Leder, Öl und Holz.
    »Kommt schnell herein, bevor ihr noch ertrinkt«, rief eine freundliche Stimme. Lyra saß auf einer rauhen Holzbank. Der Gefangene war neben ihr an einen Pfosten gebunden. Inanna brauchte nur einen Blick auf den Mann zu werfen, um zu wissen, warum man sie gerufen hatte.
    »Gehört er zu deinem Volk?«
    Inanna nickte, wagte es aber nicht zu sprechen. Der Gefangene war schmutzig und zusammengesunken. Sein Haar war ein einziger unordentlicher Knotenhaufen, und sein Gesicht war voller getrocknetem Blut. Sie hatte ihn noch nie gesehen, und er bedeutete ihr auch nichts. Aber das Wiedersehen mit einem Stammesgenossen weckte in ihr das Heimweh. Sie betrachtete seine Sandalen, das vertraute blaue Muster auf seinem Gewand, das ihn als Mitglied des Stammes Enlil identifizierte. Waren nicht einige Männer aus diesem Stamm zu Liliths Hochzeit gekommen? Vielleicht hatte sie ihm als junges Mädchen Ziegenfleisch oder Honigwein gereicht.
    »Wir haben ihn aufgegriffen, als er sich an der Stadtmauer herumtrieb«, erklärte Lyra. »Wir halten ihn für einen Spion.« Sie nahm eine Fackel und hielt sie dem Gefangenen vors Gesicht. Er starrte sie feindselig und trotzig an. Im Licht erkannte Inanna die lange Schnittwunde über die ganze Seite seines Kopfes. Seine Unterlippe war gespalten und blutig. Hatten Lyras Soldaten das getan? Und wenn schon, was machte das aus?
    »Frag ihn, wer er ist«, sagte Lyra.
    »Wie heißt du?« Die Worte klangen schwer und fast schon fremd von ihren Lippen. Der Gefangene zuckte zusammen, als er sie hörte. Er sah Inanna mißtrauisch an und betrachtete aufmerksam ihr feines Leinengewand, ihre bearbeiteten Sandalen und das Baby an ihrer Brust.
    »Woher kennst du die Sprache der Schwarzköpfigen?« Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, aber seine Gefühle konnte das kaum verbergen: Haß, Furcht und Mißtrauen. »Ich bin Inanna, Gattin des Hursag vom Stamm der Kur«, erklärte sie stolz, »und die Heilerin der Königin dieser Stadt.« Doch in der Sprache der Schwarzköpfigen gab es kein Wort für
Königin,
und so ging die Hälfte der Bedeutung ihrer Worte verloren. »Sag mir, von wo du kommst. Sind noch andere mit dir gekommen?«
    Der Mann sah sie mit so unglaublichem Haß an, wie sie das noch nie zuvor erlebt hatte. »Hure, Teuflin! Wieviel haben sie dir dafür bezahlt?« Seine Worte trafen sie wie Pfeile. Wie hätte sie diese Vorwürfe auch von der Hand weisen sollen, aber dann besann sie sich wieder auf Pulal, und ihre Entschlossenheit wurde bestärkt. Was scherte es sie, mit welchen Schimpfwörtern dieser Mann sie bedachte? Niemand hatte

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