Kornmond und Dattelwein
sie gekauft, und sie würde nie käuflich sein.
»Wenn du alles sagst, kann ich sie vielleicht dazu bringen, dir dein Leben zu lassen«, erklärte sie dem Gefangenen gleichmütig. Sie ließ seinen Haß durch sie fließen und hinausströmen, ohne sich davon beeinträchtigen zu lassen. »Ich frage dich also noch einmal: Wer bist du?«
»Erzähle deinen Herren, Schlampe, daß mein Name Sippar lautet, daß ich der Sohn des Häuptlings Nergal vom Stamm der Enlil bin, und daß ich mein Leben nicht für einen schnöden Lohn erkaufen will.«
»Was hat er gesagt?« wollte Lyra wissen. Inanna nannte ihr den Namen des Mannes und den seines Stammes. »Waren noch andere bei ihm? Weitere Spione? Gar ein ganzer Aufklärungstrupp?«
»Das will er nicht sagen.«
Lyra schüttelte müde den Kopf und erhob sich von der Bank. »Überlaß ihn uns eine Weile. Spätestens heute abend ist er bereit zu reden.« Sie legte Inanna eine Hand auf die Schulter. »Ich mag ein solches Vorgehen genausowenig wie du, aber leider gibt es keine andere Möglichkeit. Die ganze Stadt ist in Gefahr, wenn diese Nomaden in die Ebene einfallen. Rein zahlenmäßig sind sie uns wahrscheinlich hundert zu eins überlegen.« Inanna mußte an das Lager der Kur denken, an die schwarzen Zelte, die sich im Tal erstreckten, so weit das Auge sehen konnte. »Unsere Armee hingegen ist ein schwacher Haufen«, erklärte Lyra. »Wir können im Moment nicht mehr Soldaten als
Magur
aufbringen, zumindest an kampfbereiten Streitkräften.« Sie warf einen Blick auf den Gefangenen, und ihre Miene verdüsterte sich. »Überlaß ihn erst einmal uns. Es gibt leider keine andere Möglichkeit.«
Als Inanna am Abend zurückkehrte, erkannte sie Sippar kaum wieder. Er lag auf der Bank. Seine Arme und Beine waren merkwürdig verdreht, und sein ganzer Körper wirkte so schlaff wie ein ausgeschütteter Getreidesack. Von einem seiner Augen war nur eine leere Höhle zurückgeblieben, und blutige Lappen waren um seine Füße gebunden. Aller Stolz war aus ihm herausgeprügelt worden. Nur Schmerz und Furcht waren geblieben. Inannas Zorn über solche Brutalität wuchs so sehr, daß sie ihn kaum noch bezähmen konnte. Sie haßte Lyra, Seb und alle anderen in der Stadt. Was für dumme und grausame Menschen! Was kümmerte es sie noch, was aus ihnen wurde, wenn die Nomaden kamen? Sie würde Sippar retten, um an ihm das wiedergutzumachen, was sie ihm angetan hatten. Aber als ihr Pulal wieder ins Gedächtnis kam, blieb in ihren Gedanken nur Verwirrung zurück. Sie fühlte sich hin und her gerissen. Wen verriet sie eigentlich? Ihr Volk? Lilith und Enkimdu?
»Ninazu?« murmelte der Gefangene. Das war ein Frauenname. Vielleicht hieß eine seiner Frauen so. Sein Kopf rollte zur Seite, und er schien große Mühe zu haben, das Wort zu artikulieren. »Wir haben ihn unter Drogen gesetzt«, bemerkte Lyra grimmig. »Ich denke, er wird nun reden.« Inanna ging wortlos an ihr vorüber und kniete sich neben den Mann.
»Sippar?«
»Ninazu?«
»Nein, ich bin es. Inanna von Kur. Ich bin zurückgekommen, um dir zu helfen, Sippar. Also, hör zu ...«
»Vom Stamm Kur, sagst du?« Seine Stimme klang schläfrig, und sein übriggebliebenes Auge starrte entrückt in die Ferne. »Von Kur. Dann mußt du den mächtigen Pulal kennen.« Den mächtigen Pulal? Inanna fuhr zurück. Was war in den Stämmen vorgegangen, seit sie ihr Volk verlassen hatte? Sie erinnerte sich, wie Sellaki an der Abendtafel von einem Mann mit einer schlangenförmigen Narbe erzählt hatte, der alle Schwarzköpfigen um sich scharte. Der
mächtige
Pulal.
»Ein großer Führer, dieser Pulal.« Die Worte kamen ihm nun etwas flüssiger über die Lippen; etwas zu rasch, denn er verhaspelte sich. Sie spürte die Verzweiflung in seiner Stimme. Er suchte wie ein Ertrinkender nach ihr. »Mein Name ist Sippar, Sohn des Nergal vom Stamm der Enlil.«
»Ja, Sippar, das hast du mir schon erklärt. Erzähl mir lieber noch etwas von diesem Pulal.« Ihr Herz wurde zu Eis, als sie den Namen ihres Bruders aussprach.
»In diesem Jahr hat der mächtige Pulal die meisten Wilden im Westen von ihrem Land vertrieben. Nun grasen unsere Herden in Frieden, und unsere Frauen können sicher schlafen.« Also hatte er sich endlich um die kleinen Rotköpfigen gekümmert. Das hörte Inanna nicht ungern. Sie erinnerte sich, wie sie am Paß von vieren von ihnen angegriffen worden war, wie sehr sie gestunken hatten, an die Wunde in Enkimdus Bein und an so viele andere Dinge, daß sie
Weitere Kostenlose Bücher