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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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stieß ihre Hand gegen etwas, das unter der Decke verborgen war. Etwas Kleines und Hartes wie ein Stein. Zorn stieg in ihr hoch und ließ einen gallenbitteren Geschmack auf ihrer Zunge zurück.
    »Seb!«
    Im Nu stand er wieder an ihrem Bett. »Was ist?«
    Sie öffnete langsam die Hand und fürchtete sich vor dem, was sich ihren Augen bieten würde. Auf ihrer Handfläche lag ein Stück Jade; so durchsichtig wie ein Blatt im Licht. An einem Ende war eine Schlange hineingeschnitten, die sich so weit zurückbog, daß sie in ihren eigenen Schwanz biß. Inanna starrte auf das Stück. Dies muß ein weiterer Alptraum sein, ein neuer böser Traum, dachte sie. Grüner Stein, so kalt wie Eis auf ihrer Haut. Sie konnte das Böse fast riechen, das von ihm ausging.
    »Was ist das?«
    Sebs Miene verdunkelte sich. »Ein Signatur-Siegel.« Das kalte Zimmer, das blaue Licht und die blinde Frau mit dem weißen Haar. Seb nahm das Stück in die Hand und studierte es. »Verflucht soll sie sein!« wütete er. »Soll sie in der Hölle schmoren!«
    »Wen verdammst du? Wem gehört dieses Siegel?« Sie wollte die Frage ungeschehen machen, wollte die Antwort gar nicht hören, aber dafür war es jetzt zu spät.
    »Das ist das Siegel von der Hohepriesterin der Hut. Das Siegel von Rheti selbst!« Seb hatte sich so nahe zu Inanna hinuntergebeugt, daß seine Wange fast die ihre berührte. »Ich schwöre es dir bei Lanla«, versprach er erregt, »daß dieses Weib nie wieder an mir vorbeikommt!«
    Die Königin war außer sich. Im Zentrum der Großen Halle der Mütter lag inmitten der kostbar gewandeten und wohlduftenden Höflinge ein übel entstellter Leichnam auf einem groben Holzbrett. Schmutziges Flußwasser troff von ihm auf die Fliesen. Er war noch fast ein Knabe, kaum älter als achtzehn. Man konnte an seinen Armmuskeln immer noch erkennen, daß er einmal ein kräftiger und wendiger Athlet gewesen war. Aber nun ist seine Haut so weiß wie ein Fischbauch, dachte die Königin, sein Haar hat die Farbe der Flußalgen, und möge die Göttin mir die Gunst gewähren, ein solch entstelltes Gesicht nicht noch einmal sehen zu müssen.
    Sie sah wieder auf die Augen, die vor Panik verdreht waren, auf den offenen Mund und auf die vier Stümpfe, an denen sich einmal Hände und Füße befunden hatten. Am längsten aber studierte sie die goldene Schnur, die um den Hals des Jungen verknotet war; denn es war diese Schnur, die die wahren Umstände seines Todes verkündeten. Er war der König gewesen, und man hatte ihn stranguliert; getötet auf die alte Art, wie man seit undenklichen Zeiten Jahr für Jahr den König erwürgt hatte. Erst sie hatte nach ihrer Thronbesteigung mit diesem Brauch Schluß gemacht. Und nun schien es wieder von vorn zu beginnen.
    »Idioten!« brüllte sie die Höflinge an. »Hättet ihr nicht soviel Takt aufbringen und damit warten können, bis ich tot sein würde?« Zu ihrer Linken, entlang der gegenüberliegenden Wand standen dreiundfünfzig Königinnen-Gefährtinnen, mieden ihren Blick und starrten betreten zu Boden. Sie kannte sie alle aus ihrer Jugend. In der Schlacht würden dieselben dreiundfünfzig an ihrer Seite kämpfen und um ihretwillen ohne Murren in den Tod gehen. Und nun wagten es diese Heldinnen nicht einmal, ihr ins Gesicht zu sehen. Sie war umgeben von Idioten und Feiglingen. Rote Rüschengewänder, goldene Bänder, weiche, weiße Hände und Schühchen, wie sie für Tanzmädchen geeignet waren. Nutzlos wie eine Herde aufgeplusterter Pfaue, mehr war in ihrer sogenannten Gefährtinnenschaft nicht mehr zu erkennen. Die größten Heldentaten vollbrachten sie an der Abendtafel. Und wahrscheinlich würden sie erklären, es sei die Schuld der Königin, daß sie so träge geworden seien. Schließlich habe die Herrin sie zu lange nicht in die Schlacht geführt.
    Und die anderen, waren die denn besser? Die Königin sah hinüber zu den weißgewandeten Beratern am anderen Ende der Großen Halle. Ihre Onkel und ihre Schwestern, die Wachen, die Mundschenke und die übrigen Höflinge. Alle knieten sie vor ihr und bemühten sich, einen wirklich loyalen Eindruck zu machen. Hatte es je eine besser aussehende Versammlung gegeben, so luxuriös gekleidet, so reichlich mit Edelsteinen behängt und so üppig parfümiert? Aber unter dieser Oberfläche verbarg sich nichts anderes als Fäulnis und Verfall, als Verschwörungen und Verrat. Was hatte sie, die Königin, getan, daß sie so geworden waren? Konnte sie niemandem mehr trauen außer sich

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