Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
selbst? War dies die Folge eines lang anhaltenden Friedens für das Volk? Hätte sie doch einen Krieg beginnen und sie in Blut waten lassen sollen? Sie machte sich keine Illusionen darüber, daß genau dies nach ihrem Tod geschehen würde. Aber bis zu jenem Augenblick war sie die Königin, und sie würde schon dafür Sorge tragen, daß niemand das vergaß.
    »Das ist Verrat!« Ihre Stimme dröhnte klar und kraftvoll durch die Halle. Die Königin erhob sich, ignorierte ihre Fußschmerzen, begab sich zu dem Leichnam und legte eine Hand darauf. Es irritierte sie, daß sie sich nicht mehr an den Namen des Knaben erinnern konnte. Nein, ins Bett hatte sie ihn nie mitgenommen. Das tat sie niemals mit den Ritualkönigen. Sie hatte sich stets ihre eigenen Liebhaber ausgesucht. Auch damals, als sie noch ein lebenslustiges Mädchen gewesen war, hatte sie anders als ihre Freundinnen, die jeden genommen hatten, ihre eigene Auswahl getroffen. Aber nun, wo der König tot war, erschien es ihr falsch, sich nicht einmal mehr daran erinnern zu können, wer seine Mutter gewesen war. Sein Fleisch, das zu lange im Wasser gelegen hatte, fühlte sich kalt an, aber sie legte ihm dennoch die Hand auf die Brust, ohne auch nur für einen Moment zusammenzuzucken. Hatten sie ihm die Hände und Füße abgeschnitten, bevor sie ihn stranguliert hatten, oder danach?
    »Die Hohepriesterin ist sofort von ihrem Amt zu entfernen.« Die Höflinge schienen den Atem anzuhalten. Also waren sie überrascht, daß die Königin sehr wohl Bescheid wußte, wer diesen Mord veranlaßt hatte. Wahrscheinlich hatten sie angenommen, sie würde den lieben langen Tag in ihrer Werkstatt verbringen und Statuen modellieren.
    »Wie lautet die Anklage, Euer Majestät?« Die Erste Beraterin war ihre Schwester Sellaki. Einen Augenblick lang standen sich die beiden Frauen wie zwei Hirschbullen gegenüber, die Miene machen, mit gesenktem Geweih aufeinander loszugehen. Also steht Sellaki auf der anderen Seite, erkannte die Königin. Eigentlich ist mir das schon seit Jahren bewußt, und ich hätte schon viel früher etwas dagegen unternehmen sollen.
    »Die Anklage lautet auf Mord. Rheti hat den König ermordet.« Sellaki kratzte sich an der Schulter und sah sich in der Halle um. Schon als junges Mädchen hatte sie nie so etwas wie Vornehmheit besessen. Und ihre Arme und Beine hatten stets doppelt so dick ausgesehen wie die von jeder anderen Frau. Aber auf der anderen Seite war sie ehrlich. Von allen, die sich hier in der Großen Halle versammelt hatten, war sie die einzige, die es wagte, die Wahrheit zu sagen.
    »Die Hohepriesterin hat schon seit Monaten den Tempel nicht mehr verlassen.« Die fehlenden Zähne verliehen Sellaki ein komisches Aussehen, aber ihre Worte waren so scharf wie Pfeilspitzen. »Sie hatte keine Möglichkeit, irgendwen umzubringen.«
    »Entfernt sie aus ihrem Amt, und bringt mir ihren Stab.«
    »Dem kann nicht Folge geleistet werden«, antwortete Sellaki gelassen. »Das Volk wird keine andere Hohepriesterin akzeptieren; denn allerseits wird befürchtet, Rheti könne die Stadt mit einem neuen Fluch belegen. Und was die Truppe angeht ...« Sie hielt kurz inne und rollte bedeutungsvoll mit den Augen. »Da steht Ärger bevor.«
    »Willst du mir damit sagen, sobald ich Rheti aus ihrem Amt entfernen lasse, erwartet mich eine offene Rebellion?« brüllte die Königin. Ein Blick auf Sellakis Miene genügte zur Antwort. Die Königin drehte sich um und sah auf die ängstliche, schweigende, kniende Menge. »Dann stehe uns die Göttin bei.«
     

III
    Warum weinst du denn? Hast du schon wieder Hunger? Hier, nimm meine Brust. Sieh dich nur an, wie dick und groß du geworden bist. Wer würde glauben, daß du erst fünf Monate alt bist? Sieh nur diese rosigen Wangen und das wunderbare dunkle Haar. O du schönstes aller Kinder, wie verrückt ich doch nach dir bin! Stellen sich alle Mütter bei ihren Erstgeborenen so an?«
    »Seb, ich glaube, Alna hat gerade
Mama
gesagt.«
    »Nein, Inanna, dafür ist sie noch viel zu klein.«
    »Warum stehst du da an der Tür herum? Du mußt mich doch nicht unentwegt bewachen. Komm her und setz dich zu mir auf die Bank. Jetzt sieh dir nur an, wie es wieder regnet. Man hat mir erzählt, der Fluß sei noch nie so hoch gewesen. Hört das denn überhaupt nicht mehr auf? Ich kann mich nicht mehr entsinnen, wann es hier zum letztenmal trocken gewesen ist.«
    »Ich habe eine Nachricht für dich. Von Lyra.«
    »Was gibt es denn?«
    »Sie möchte, daß

Weitere Kostenlose Bücher