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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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sich kaum noch auf die Worte des Gefangenen konzentrieren konnte. Er redete unzusammenhängend wie im Delirium, sprach von einer Jagd, was aber nicht sehr viel Sinn ergab. »Pulal sagt, daß wir bald das ganze Tal erobert haben.«
    Inanna fuhr zusammen. Meinte er damit das, was auch sie meinte? »Was soll das heißen, das ganze Tal?«
    So etwas wie Bewußtsein schien in seine Miene zu treten, und er fuhr leiser fort: »Soweit ich das sehen konnte, haben sie hier so gut wie keine Soldaten. Nur ein paar Weiber und eine Handvoll grüner Bengel stehen bereit, diese Stadt hier zu verteidigen. Das stimmt doch, oder?«
    Natürlich stimmte das, aber sie konnte ihm das natürlich nicht zugeben. »Nein«, log sie, »die Stadt verfügt über eine gewaltige Armee, mehr als sechzig
Magurs
zu je sechzig Soldaten.« Sie spreizte die Finger und hielt sie dem Mann vors Gesicht, damit er erkennen konnte, daß man eine solche Menge an Soldaten nicht mehr zählen konnte. »So viele Krieger, Speere und Pfeile.« Sippar wirkte enttäuscht. »Sind alle meine Ziegen in der Pferch? « Er war schon wieder in seine Traumwelt zurückgefallen. Er murmelte weiter von Schafen und Ziegen, bis Inanna kurz davor stand, die Geduld zu verlieren. Dann wurde sein Blick wieder klarer, und Gier huschte über sein Gesicht. »Ist es wahr, daß in dieser Stadt unermeßlich viel Gold zu finden ist?«
    »Nein.« Inanna spürte die Taube an ihrem Hals; spürte auch Sebs und Lyras Blicke in ihrem Rücken. »Hier gibt es überhaupt kein Gold.«
    »Ach so.« Sippars Blick war wieder trübe geworden. »Dann bleiben uns immer noch die Frauen. Pulal hat sie uns versprochen. ›Die Frauen den Kriegern zum Besitz und zum Vergnügen.‹« Ein häßliches Lächeln verzerrte seine Lippen. »Selbstverständlich nur die Jungfrauen. Die anderen ...« Mit Mühe brachte er eine Hand hoch und deutete matt eine Schnittbewegung an seiner Kehle an. »Was sagt er da?« unterbrach Lyra die weiteren Ausführungen Sippars. Inanna war ihr dankbar dafür. Sie konnte es nicht mehr mit anhören. Was würde aus der Stadt werden, wenn Pulal sie mit solchen Männern angriff? Sie mußte an Sellaki und ihre Töchter denken, an die Hebammen, die ihr bei der Geburt von Alna das Leben bewahrt hatten, an die Tempelpriesterinnen, an die Königin und an Lyra, die auf eine Antwort wartete. Sie erinnerte sich an eine Begebenheit aus ihrer Kindheit, als eine Frau von einem halben dutzend Betrunkener überfallen und vergewaltigt worden war, erinnerte sich an das viele Blut am Körper der Frau und an den Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht. Inanna hatte keinen Zweifel mehr, auf welcher Seite sie stehen würde.
    »Was hat der Gefangene dir gesagt?«
    »Er erzählte, die Schwarzköpfigen würden über eine Armee verfügen, mit der sie die Stadt einnehmen könnten«, antwortete sie. Lyra atmete scharf durch ihre gesplitterten Vorderzähne ein. »Hat er damit gelogen oder übertrieben?«
    »Das glaube ich kaum.«
    »Ist er ein Spion?«
    Inanna sah auf Sippar. Sein Leben lag in ihrer Hand. Sie brauchte nur den Kopf zu schütteln, und dann würden ihn die Soldaten zu der Stelle zurückbringen, wo sie ihn gefunden hatten. Wahrscheinlich würden sie ihm noch die Botschaft an Pulal mit auf den Weg geben, daß er sich bei einem Angriff auf die Stadt einen blutigen Kopf holen würde und sonst nichts. Aber wenn Inanna nickte, würden sie den Schwarzköpfigen umbringen. Sie dachte an das Lächeln auf Sippars Gesicht, als er mit dem Finger über seine Kehle gestrichen war.
Zum Besitz und zum Vergnügen.
    »Er ist ein Spion.« Sie verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hörte noch, wie Seb und Lyra sich erregt unterhielten. Unweit des Tores blieb sie einen Augenblick lang stehen. Der Regen fiel weniger heftig als noch am Nachmittag. Er zerschnitt den Abendhimmel in lange, blasse Streifen. Das Wasser strich über ihre Wimpern und näßte ihre Wangen, aber keine Frische war in ihm. Sie hatte einen ihres Volkes ans Messer geliefert. Aber eine Seite hatte sie verraten müssen, ganz gleich wie sie es drehte und wendete.
    Mitten im fünfundvierzigsten Sommer der Regentschaft der Königin, am ersten Tag des Gerstenmonds, klarte der Himmel endlich auf, und der Fluß kehrte schlammtreibend in sein Bett zurück. Er hinterließ Felder voller Schlick und verfaulenden Getreides. Die Hitze war enorm, und Inanna begab sich wie die anderen in die kühlen unterirdischen Gemächer unter dem Palast. Dort wurden

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