Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
meinen Sie das?«
»Naja ...« Er zeigt auf mein Stück Papier. »Sie wissen doch, wo das herkommt, oder?«
Aber ich habe keine Ahnung, wovon er redet.
»Die ersten beiden Zeilen.« Über meine Schulter geneigt, liest er sie mir vor: »Tu prendras le chemin du haut, et moi, je prendrai celui du bas.«
Verständnislos sehe ich ihn an.
Er lächelt. »das ist doch der Text von dem Volkslied. Jetzt sagen Sie bloooß nicht, Sie erkennen ihn nicht wieder.«
»Tut mir leid.« Ich schüttle den Kopf, mit schlechtem Gewissen, auch wenn ich nicht weiß, warum.
»Na dann.« Er zuckt die Achseln. »Sie lassen mir keine andere Wahl.«
»Wie meinen Sie das?« Ich lache nervös.
»Oh, ye'll tak' the high road.« Leise höre ich die Worte des Liedes zum Surren des Zuges, zum Kreischen der Räder auf den Schienen. »And I'll tak' the low.«
Das macht längst nicht jeder Mann, dass er dir in einem überfüllten Metrowagen etwas vorsingt, obwohl ihn außer den eiskalten Blicken eines anonymen unfreiwilligen Publikums nichts anfeuert - und noch dazu ohne Dudelsäcke.
»Loch Lomond!« Meine Wangen brennen, so rot bin ich geworden.
»Sehr gut.« Er lächelt ermutigend und packt seinen Mantel und seine Aktentasche fester.
Wir sind gerade in den Bahnhof Châtelet eingefahren. Hier müssen die meisten Pendler umsteigen. Offensichtlich gehört er auch dazu, ich dagegen nicht. Schade, denke ich, als er aussteigt.
Als die Türen sich zischend geschlossen haben und der Zug wieder anfährt, erhasche ich noch einen Blick auf den Schotten. In seinem verknitterten Anzug bahnt er sich mit großen Schritten einen Weg durch den Strom der Pendler, die er alle überragt. Dann verliere ich ihn aus den Augen. Und ich habe mich nicht einmal für sein Lied bedankt.
Ein Sitz ist frei geworden. Ich besetze ihn schnell, mit meinem Zettel in der Faust, wild entschlossen, den Rest der Botschaft zu knacken.
Mais attention, lese ich , ce chemin ne te ramènera pas chez toi. Change de route.
Achtung ... Dieser Weg wird dich nicht nach Hause bringen.
Bring mich nach Hause!, denke ich. Take me home!
Und dann geht mir ein Licht auf: Es geht um den Weg, den wir gefahren sind, als wir von Toulouse zurückkehrten - wir haben die autoroute genommen, den highway, als wir zu Charlie nach Hause wollten. Da ist es passiert. Wenn ich den highway nehme.
Es stimmt - wir sind nicht angekommen, sind nie zu Charlie zurückgekehrt.
Mit Herzrasen lese ich den letzten Satz und denke über seine Bedeutung nach. Jetzt wird mir der Sinn klar.
Change de route.
Natürlich! Die Antworten sind alle in diesem letzten Satz hier zu finden. Nimm einen anderen Weg! Das ist es. Um den Weg zurück nach Hause zu finden, muss ich die Richtung ändern. Wir müssen den Lauf unseres Schicksals verändern. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht.
Aber wo ist jetzt mein Zuhause?
46
E r ruft mich auf der Arbeit an. Wieder ist ein Monat vergangen, seit wir miteinander gesprochen haben, seit dem Tag in Ozouer. Zuerst erkenne ich seine Stimme gar nicht, doch dann wird meine Atmung schneller. Ich habe plötzlich Schmetterlinge im Bauch, als ich das tiefe dunkle Timbre höre. Wie ein bekanntes Lied, das mich lächelnd verharren lässt, dringt seine Stimme in die fremde, einsame Welt ein, in der ich mich jetzt bewege. Sein vertrauter singender Tonfall. Von ihm zu hören hätte ich jetzt am wenigsten erwartet. ich habe überhaupt keinen privaten Anruf erwartet. ich bin eine einsame Reisende ohne Richtung.
»Komm nach Hause!«, sagt meine Mutter immer, wenn wir miteinander telefonieren. »Da drüben hält dich jetzt nichts mehr.«
Aber im tiefsten inneren weiß ich, dass ich dieses Land nicht verlassen kann, dass ich nicht ohne ihn ins Flugzeug steigen kann - nicht ohne Charlie. Nicht ohne Marc.
Er muss mich sehen. Ich höre die Dringlichkeit in seiner Stimme, in seinem Atem, ebenso wie ich sie nun auch in meinem eigenen Atem spüre. Ich kann mich nicht auf meine Stimme verlassen, daher sage ich nichts. Marc meint, ich sollte mich nach der Arbeit mit ihm treffen, in der Glaspyramide vor dem Louvre - um sechs Uhr. »Okay«, murmele ich und lege auf.
Dann muss ich lächeln. Er weiß es noch - das war früher mein liebster Platz auf der ganzen Welt.
Um zwanzig vor sieben renne ich durch die Passage Richelieu, diesen düsteren Gewölbegang, der bei der Rue de Rivoli beginnt und unter dem linken Flügel des Louvre hindurchführt, bis zur Cour Napoleon. Ich bin viel zu spät dran -
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