Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
tue so, als sähe ich ihn nicht, und sause weiter.
Die Apotheke liegt an der nächsten Ecke, gleich da vorn.
Aber dann fällt mir wieder ein, dass die Waage an dem ersten Montag, nachdem ich in diese Vergangenheitswelt zurückgekehrt war, nicht davorgestanden hatte ... und als ich den Eingang erreiche, sehe ich, dass sie auch jetzt nicht da ist. Ich verstehe das nicht. Selbst nach Ladenschluss war die Waage draußen stehen geblieben, gesichert mit einer dicken Kette mit Schloss. Ich werfe einen Blick in den Verkaufsraum, frage mich, ob die Apotheke noch geschlossen hat. Die Lichter sind schon an, und das grüne Kreuz blinkt, aber die Gitter sind noch zur Hälfte heruntergelassen. Also wird sie gleich öffnen. Ich will warten und dann nachsehen, ob die Waage inzwischen vielleicht drinnen steht.
Nervös ziehe ich den Mantel fest um mich. Ich überlege, was ich tun soll, und hoffe bloß, dass ich Beattie nicht begegne. Plötzlich hält vor mir ein Lastwagen. Der Fahrer springt heraus, zwinkert mir zu und geht mit großen Schritten nach hinten. Mit einem höflichen Lächeln beobachte ich, wie er die Wagentüren aufschlägt und mit einem einzigen Satz in seinen LKW hineinspringt, offenbar um mir zu imponieren. Mit verschränkten Armen lehnt der Möchtegernsportler sich gegen die Wand, kaut Kaugummi und prüft mit einem raschen Seitenblick, ob ich ihm noch zuschaue. Leider ja. Eine Hebebühne fährt herunter. Toller Trick, denke ich. Was er wohl als Nächstes macht - sich auf die Brust trommeln?
Doch da sehe ich die Gesuchte plötzlich, hinten im Lastwagen. Im selben Moment rasselt das Gitter hinter mir hoch und der Apotheker stürzt herbei, um den LKW-Fahrer zu begrüßen und seine neue Waage in Empfang zu nehmen.
Deswegen also konnte ich den kleinen Zettel nicht finden. Es gibt ihn noch gar nicht!
Das muss also der Tag gewesen sein, als wir hier draußen in der Kälte standen und uns wogen. Hat das Schicksal mich hierhergeführt?, frage ich mich. Oder verändere ich den Lauf des Schicksals gerade, wie Marc gesagt hat? Ich sehe zur Uhr der Gare Saint-Lazare hinauf, zu dem uralten weißen Zifferblatt mit den verblassten römischen Ziffern, das in einem Rahmen aus steinernen Verzierungen hoch über dem großartigen Eingang des Bahnhofs schwebt. Wie oft habe ich in der Vergangenheit zu dieser Uhr hinaufgeschaut, genau wie andere Menschen aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Jahrhundert! Es ist sieben Uhr achtundfünfzig. Ich werfe einen Blick zurück zum Café. Von Beattie keine Spur. Wir waren an dem Tag spät dran. Ich atme schneller. Sie könnte jetzt jeden Moment auftauchen.
Die Waage steht schon an ihrem Platz. Hier kam nun unser Auftritt. Ich drehe mich nach ihr um, werfe dann wieder einen Blick nach oben auf die Uhr - eine Minute nach acht. Es geht ganz schnell, denke ich, wenn ich jetzt draufspringe.
Ich stecke einen Franc in den Schlitz und warte, schaue noch mal zur Uhr hinauf. Die Maschine stößt einen hohen Piepton aus, und schon rollt das Zettelchen heraus, genau in dem Moment, als der große Zeiger sich zitternd auf den dritten Minutenstrich nach der vollen Stunde schiebt.
»Annie?«
Mein Herz schlägt einen Purzelbaum, aber ich drehe mich nicht um, sondern greife nach dem Stückchen Papier und ziehe es vorsichtig heraus. Dieses Mal soll es nicht zerreißen.
»Was machst du denn hier?«
Ich halte den Zettel sicher in der Hand, als ich von der Waage springe. Allerdings komme ich mir ein bisschen albern vor. »Ich wiege mich«, sage ich schroff.
Ich möchte Beattie nicht ansehen, tue es aber doch. Sie klatscht in die Hände, um die Durchblutung ihrer Finger wieder anzuregen, hält den Kopf schräg und lächelt ein wenig, offensichtlich amüsiert, mich hier so zu finden.
»Dafür bist du aber weit gefahren.«
»Da hast du recht.« Ich schaue wieder zur Uhr hinauf - ein nervöser Tick. »Ich muss weiter.«
Doch als ich mich auf den Weg zurück zum Bahnhof machen will, fasst Beattie mich am Ellbogen. »Geh nicht!« Sie spricht leise. »wir müssen reden.«
»Ich nicht.«
»Ich wohl.« Sie hält meinen Arm fest umklammert.
Aber ich will sie wirklich nicht anschauen, ich will meiner alten Freundin nicht ins Gesicht sehen, vor allem jetzt nicht, da meine Augen zu brennen anfangen. Das liegt nicht an der Kälte. Also befreie ich mit einem Ruck meinen Arm und wende mich zum Gehen.
»Annie, bitte - es ist nicht so, wie du denkst!«
Da drehe ich mich zu ihr um, kochend vor Wut, mit brennenden
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