Kottenforst
Haar und dunkler Brille. Kommissarin Ahrbrück? Pilar wollte nicht genauer hinschauen, zumal ein paar Personen zwischen ihnen standen. An der Seitenwand der Kapelle fiel ihr ein Mann mit halb gesenkten Lidern auf, dessen Blick über die Reihen der Anwesenden schweifte und niemanden auszulassen schien. Als ein Kirchenlied gesungen wurde, bewegte er die Lippen, blickte aber nicht ins Textblatt. Die Kriminalpolizei beobachtet die Trauergäste, nahm Pilar an. An der Zufahrt zum Parkplatz hatte sie zwei Männer mit ähnlich gleichgültigem Gesichtsausdruck bemerkt, den man auch für stille Trauer halten konnte.
Es ging vorbei, wie alle Beerdigungen vorbeigehen, traurig, verstörend, voll schwerer Gedanken. Die überwiegend schwarz oder grau gekleideten Menschen sprachen in gedämpfter Lautstärke miteinander und entfernten sich allmählich von der Grabstelle, die Schüler am schnellsten, darunter Katie, Vivian, Max und Kevin. Die vier grüßten einen etwa dreißigjährigen sportlich wirkenden Mann, in dem Pilar Herrn Schmidt, den jetzigen Deutschlehrer von Lukas, vermutete. Neben ihm leuchtete die weiße Haarwolke von Professor Dobbel. Die zwei waren angeregt miteinander ins Gespräch vertieft, als erörterten sie grundlegende Fragen des Lebens, doch vielleicht handelte es sich nur um die Interpretation eines Dramas von Friedrich Schiller.
Dirk Holzbeisser blieb am Grab seiner Frau stehen, ebenso der blonde junge Mann und die alte Dame, die sich auf ihren Stock stützte und ständig den Kopf schief hielt, als ob ihr dies das Hören erleichterte. Zwei korpulente Frauen mit kurzem grauem Haar, die um die sechzig Jahre alt sein mochten, möglicherweise Schwestern, drückten Holzbeisser lange die Hand.
Auf dem asphaltierten Hauptweg standen Anja Dreisam, Frau Fischmann und Senta Bindelang beieinander. Sie unterhielten sich leise mit Jörg Ebel, den Pilar sonst nur in seinem Auto oder auf den drei Metern zwischen Haustür und Garage sah, der aber mit seinem rundlichen Körper und dem braunen Mantel so sehr an Nogger erinnerte, dass man ihn sofort erkannte. Anja trug einen schwarzen Hut mit breiter Krempe, sodass man von dem feuerroten Haar nur ein paar Zipfel sah. Senta Bindelang hatte sich in einen plüschigen schwarzen Pelz aus aneinandergenähten länglichen Fellstücken gehüllt. Pilar hoffte, dass sie nicht von erlegten Katzen stammten.
»Holen die sich alles beim Aldi«, hörte sie die Inhaberin des Schreibwarenladens klagen. Hatte sie wirtschaftliche Probleme, weil viele Leute mit dem Auto an ihrem Laden vorbeifuhren und alles in den Supermärkten einkauften? Ihre Mundwinkel zeigten wie meistens nach unten, und trotzdem kam sie Pilar heute mit dem neuen Kurzhaarschnitt und der schimmernden Perlenkette um den Hals außerordentlich verschönt vor, ebenso wie Anja, unter deren Hutkrempe goldenes Ohrgehänge baumelte. Möglich, dass beide sich für den Witwer interessierten, doch der Gedanke, eine von ihnen hätte seine Ehefrau ermordet oder einen Mörder angeheuert, damit er frei würde, kam ihr derart krank vor, dass sie versehentlich kurz auflachte.
Dirk Holzbeisser kam auf das Grüppchen zu und hustete anhaltend. Womöglich hatte er das gewaltsam unterdrückt, bis die Trauerfeierlichkeiten vorbei waren. Jörg Ebel legte ihm die Hand auf die Schulter und murmelte: »Kopf hoch.« Die drei Frauen lächelten sanft und traurig und reichten dem Witwer nacheinander die Hand. Frau Fischmann ergriff seine Rechte sogar mit beiden Händen und nickte ihm zu, als wolle sie ihm Mut zusprechen.
Ich sollte nicht länger hier herumstehen und die Leute beobachten, dachte Pilar. Sie schloss sich dem Menschenstrom in Richtung Ausgang an. Als sie das eiserne Tor des Friedhofs hinter sich gelassen hatte, fiel ihr ein, dass sie es versäumt hatte, nach Holzbeissers alter Freundin Ausschau zu halten. Wieso hatte sie ihn nicht einfach gefragt? Warum diese sinnlosen Hemmungen? Sie konnte jetzt unmöglich zurückgehen, um die Frage nachzuholen – nicht an so einem Tag.
AM ZWÖLFTEN TAG DANACH
Liebe Nadja,
heute ist das Weib unter die Erde gekommen. Die Feier war unerträglich. Ihre fabelhaften Leistungen, ihre außergewöhnliche Selbstlosigkeit, ihre erstaunliche Klugheit … Es war grauenvoll, denn nichts davon ist wahr. Erinnere Dich, Nadja: Sie hat gewusst, dass er mir gehörte, und hat ihn trotzdem um ihren Finger gewickelt. Solche Frauen wissen nicht, was sie tun. Sie wissen nicht, dass sie mit dem Leben anderer spielen. Dass sie
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