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Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Thiesmeyer
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gewesen, als er ertragen konnte – würde Richy das nicht meinen? Der hat einen furchtbaren Schrecken bekommen, Pilar, der hat die Schnauze voll.
    Der Morgen kam, und nichts war passiert, außer dass Pilar vom verkrampften Liegen Kopfschmerzen bekommen hatte. Gegen neun rief sie Rita an.
    »Datt es widde de falsche Zick, Pilar. Isch ben am ässe.«
    »Nur kurz, Rita: Kennst du den Bobbi?«
    »Datt Füssje uss de Dorfstroß? E Kotzkömpsche wor datt, als er klehn wor. Hätt met singe Messer allen eins op däe Däts jejävve.
    »Allen eins auf den Kopf gegeben? Mit dem Messer?«, rief Pilar außer sich. »Das sagt ja alles!«
    »Seinem Indianermesser«, gab Rita schmatzend von sich.
    »Messer ist Messer!«
    »Enää«, sagte Rita und schlürfte ein Getränk. »Datt wor uss Jummi.«
    Gummimesser – ach so.
    »Ävve jetz, Pilar –«
    »Meinst du, die Katie mag den?«, fragte Pilar schnell, weil sie merkte, dass Rita auflegen wollte.
    »Pilar, vesök net, dursch de Hintertür mir watt övve et Katie zu entlocken!«
    Wieder Sackgasse. Rita legte auf, bevor Pilar sich entschuldigen konnte.
    Die Beerdigung sollte um elf Uhr auf dem Friedhof Kottenforst stattfinden. Pilar hatte keine Lust, sich fein zu machen, und entschied sich für die schwarze Jeans, die sie am Dienstag nach der fatalen Nacht angezogen hatte. Als sie die Hose vom Bügel nahm, fühlte sie, dass etwas in der rechten Tasche steckte. Ein Kärtchen. Die Visitenkarte, die sie völlig vergessen hatte. Sie zog sie heraus. »Nadja Fischmann«, las sie. Nadja. Hübscher Vorname. Pilar legte die Karte auf ihren Schreibtisch.
    Obwohl sie inzwischen Übung hatte, nahm das Anziehen noch immer viel Zeit in Anspruch. Die enge Jeans mit einer Hand hochziehen, die Socken im Sitzen über die Füße zerren, nur nicht zu weit vorbeugen! Den linken Arm behutsam durch den Ärmel der Bluse schieben, etwas schneller den rechten. Den linken Arm langsam in die Strickjacke, dann den rechten, und dieselbe Prozedur noch einmal mit dem Mantel. Alles musste sie in Zeitlupe durchführen, wenn sie stärkere Schmerzen vermeiden wollte. Ebenso vorsichtig ging sie die Straßen entlang bis zum Friedhof Kottenforst. Bloß nicht stolpern.
    Als Pilar die Kapelle erreichte, war die Tür geschlossen. Niemand hielt sich auf dem Vorplatz auf. Von drinnen drang das Spiel zweier Querflöten zu ihr heraus. Wie schön es hier war, mit dem Blick auf das grünbraune Tal zwischen Ückesdorf und Röttgen, auf Buchen, Tannen und Wiesenhänge, auf denen ein Hauch weißen Nebels lag. Ein Bussard zog gemächliche Kreise über den Wipfeln. Pilar wäre gern hier draußen geblieben.
    Die Tür quietschte beim Öffnen. Damit nicht auch ihre Schritte unangenehm auffielen, blieb Pilar am Eingang stehen. Ihr schossen Tränen in die Augen. Der Anblick des Sargs unter Wolken von weißen und roten Blüten, die hohen Kerzen und der melancholische Gesang der Flöten überwältigten sie. Der Kontrast zur Welt draußen, wo sie straffen Läufern und jungen Müttern mit Kinderwagen begegnet war, wo Rockmusik aus einem vorbeibrausenden Auto gedröhnt und das Müllauto in der Nebenstraße gerappelt und gescheppert hatte, war allzu groß.
    Die Schülerinnen nahmen ihre Notenblätter vom Ständer und traten beiseite. Der Pfarrer erhob sich. Die Falten seines weiten Talars schwangen an den Kerzen vorbei und ließen die Flammen erzittern. Die Stimme, die Pilar zuletzt am Telefon gehört hatte, klang nun ganz anders – warm und tröstlich erfüllte sie den Raum.
    »Lass dich nicht vom Bösen überwinden …«
    Sie schaffte es nicht, seinen Worten zu folgen. Sie könnte selbst dort vorne liegen, viel hatte nicht gefehlt. Ob Richy sich auch für einen blauen Sarg entschieden hätte? Sie fand ihn schön.
    »Gottes Ratschluss ist unergründlich …«
    Und vor allem die Seele des Mörders. Pilar blickte durch eine Lücke zwischen den Stehenden zur ersten Reihe. Rechts neben Dirk Holzbeisser saß aufrecht ein junger Mann mit glattem blondem Haar und breiten Schultern, vermutlich der Sohn der Ermordeten. Links neben Holzbeisser krümmte sich der Rücken einer Frau mit dünnem weißem Haar, Mutter, Schwiegermutter oder Tante.
    Jeder Stuhl in der Kapelle war besetzt, viele Menschen standen. Zahlreiche Leute aus der Nachbarschaft waren da, auch Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer des Gymnasiums sowie die Direktorin.
    Pilar nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass jemand sie von der Seite ansah, eine junge Frau mit offenem langen

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