Kottenforst
jemandem den gelben Kasten mit dem roten Messer brachte. Ihrem Schätzjen . Wie sah er aus? War er so jung wie Lukas oder Jahrzehnte älter wie Dirk? Was hatte Schätzjen gegen Frau Holzbeisser? Oder hatte er sich von jemandem, der die Lehrerin hasste, als Killer engagieren lassen? Sie war fast sicher, dass kaum ein Jugendlicher in ihrem Umfeld sich mit Geld zum Mord anstiften ließe. Nein, auch Lukas nicht. Obwohl sich ein paar unliebsame Gedanken aufdrängten … Hatte Lukas sich in letzter Zeit nicht ziemlich viele Edel-T-Shirts gekauft? Was war mit der Lederjacke oder den Cowboystiefeln? Hatte er das alles von dem kargen Lohn bezahlt, den er von seinen Großmüttern fürs Putzen und Einkaufen bekam, oder hatte er zusätzliche Einnahmequellen, von denen sie nichts wusste?
Pilars Hände wurden feucht. Sie hörte es noch genau, wie er von der Sechs gesprochen hatte, die Frau Holzbeisser ihm gegeben hätte. Mit dieser Note bekam man kein Abitur. Lieber Gott, mach, dass er nicht … Aber es gab ja noch Marvin mit dem Skelett auf dem Handrücken, der passte viel besser ins Bild als so ein gut aussehender Junge wie Lukas.
Der Schlaf musste sich irgendwann nach Mitternacht eingestellt haben. Pilar erwachte aus tiefen, unbestimmten Träumen. Um sie herum dröhnte Noggers Gebell. Sie schreckte hoch. Messergleich durchfuhr sie der Schmerz und ließ sie auf das Kissen zurücksinken.
Das Bellen hörte auf. Warmer Atem und der Geruch von Fisch umwehten ihr Gesicht. Sie öffnete die Augen und tastete nach dem Knopf der Nachttischlampe. Als das Licht anging, stand der Hund vor ihr und ließ den Schwanz hin- und herpendeln. War da vor dem Bellen nicht etwas anderes gewesen? Sie meinte einen schnarrenden Doppellaut gehört zu haben und dachte unwillkürlich an das Lösen der Sicherung bei einer Schusswaffe.
Nogger drehte den Kopf zum Schreibtisch und hechelte. Pilar richtete sich auf. Der Laptop war ausgeschaltet, daneben lag ihr Handy. Das Display leuchtete matt. Eine SMS . Sie sah zum Radiowecker. Eine SMS um zwei Uhr nachts? Das konnte nichts Gutes bedeuten: Richard mit Herzinfarkt zusammengebrochen oder einer ihrer Söhne verunglückt. Besoffen in die Ostsee gefallen oder in den Klosterteich.
Pilar rappelte sich auf und tippte zittrig auf »Zeigen«.
Hi Mutter der heißt Bobbi der Rothaar aus Waldclique sagt einer aus der Stufe lg Sohn.
Der Rotblonde. Der mit dem gutmütigen Gesicht eines gelangweilten Labradors. Den sie hinten im Saal gesehen hatte, bevor es dunkel wurde. Der war Katies Schätzjen ? Sieh an. Er hatte an dem Abend den Eindruck gemacht, dass ihn die Vorstellung kein bisschen interessierte. Verständlich, wenn er nur zum Morden gekommen war. Aber hatte er nicht zu weit entfernt gestanden, um an Frau Holzbeisser heranzukommen? Wenn er allerdings mit Marvin und den beiden Mädchen im Dunkeln die Plätze getauscht hatte, konnte er neben ihr gestanden haben.
Und für diesen kompakten Kerl, der mindestens zwanzig Kilo zu viel wog, war Katie zu solch einem außergewöhnlichen Liebesdienst bereit gewesen? Konnte sich der Geschmack der Mädels in den letzten dreißig Jahren so stark verändert haben? Oder machte Pilar sich ein falsches Bild von ihm? Mutter, du hast keine Ahnung. Der junge Mann konnte verborgenen Charme und ein unwiderstehliches Lächeln haben, ein zartfühlender Held und göttlicher Liebhaber sein – was wusste sie denn von ihm? Nur, dass er Lehrling in einem Baumarkt war und bis vor Kurzem im Röttgener Tor gestanden hatte, das sein massiger Körper derart ausfüllte, dass man sich fragte, warum so viele Bälle an ihm vorbei ins Netz gingen.
Selbst wenn er nicht danach aussah, konnte dieser Bobbi die Kühnheit besitzen, im Dunkeln zuzustechen. So ein Teufelskerl mochte sich auch nachts an fremde Betten schleichen, um deftig mit dem Hammer zuzuschlagen. Jäh durchfuhr Pilar ein neuer Gedanke: Ein kühner Mörder lässt die Waffe nicht fallen, wenn er das Opfer verfehlt! Ein kühner Mörder hält den Hammer fest, er schlägt zu, bis die Schädeldecke kracht. Er läuft nicht weg, wenn sein Opfer mit der Lampe um sich haut, er packt es und bringt die Tat zu Ende.
Kälteschauer jagten durch Pilars Körper. Sie sah sich vor dem Bett liegen, ihr Kopf ein Brei aus Knochen, Hirnmasse, Haar und Blut. Nein, ihr Mörder war nicht derselbe, der Frau Holzbeisser erstochen hatte. Ihm fehlte es entschieden an Kühnheit. Vielleicht hatte er seinen Plan längst aufgegeben. Die kantige Nachttischlampe war mehr
Weitere Kostenlose Bücher