Kottenforst
wahrhaben wollen: Yannick konnte nicht in Gesichtern lesen. Pah! Wie durchgeknallt war sie gewesen, dass sie das geglaubt hatte? Sie ließ sich noch einmal die gemeinsamen Gespräche im Bus, in ihrem Zimmer und am Handy durch den Kopf gehen und rief sich seine Blicke, sein ganzes Verhalten ins Gedächtnis zurück, alle Reaktionen, über die sie sich ein kleines bisschen gewundert hatte. Jetzt wusste sie, was daran faul gewesen war: Er hatte längst gewusst, was am Kurfürstenweiher passiert war! Dass er selbst dort gewesen war, glaubte sie nicht, und ebenso wenig, dass er es von seiner Schwester erfahren hatte, Anna war so verschlossen. Aber bei Katie konnte Sarah sich gut vorstellen, wie sie an ihn gekuschelt drauflosgequatscht hatte. Wenn Yannick also schon länger von der Weiher-Sache wusste, konnte er es gewesen sein, mit dem der Deal okay sein sollte. Und das würde bedeuten, dass er der seltsame Freund war, dem Katie den Handwerkskasten gebracht hatte … Aber dann wäre er auch …
Sarahs Kopf wurde glühend heiß. Vielleicht war es doch nur ein verdammter Zufall gewesen. Sie wollte nicht mehr daran denken, sie hatte damit nur angefangen, weil sie so wahnsinnig sauer war! Pilar, schoss es ihr durch den Kopf, sie musste dringend mit Pilar reden. Warum fuhr der Bus so langsam? Das dauerte ja eine Ewigkeit! Wahrscheinlich würden sie nicht vor Mittag an der Schule sein. Das war zu spät! Wenn Yannick die Zeitung gelesen hatte … Was würde er tun? Was würde er mit ihr tun? Sarah fror wieder. Ihr war, als stäche die Rubinnadel durch den Stoff ihres Rucksacks tief in ihr Bein, würde länger und länger, bis sie ihr Herz durchbohrte.
Mit Anna reden, auch das war dringend. Warum hatte sie Anna nichts von sich und Yannick erzählt und sich sogar Mühe gegeben, es vor ihr zu verbergen? Möglich, dass Anna sie vor Yannick gewarnt hätte. Sie konnte etwas wissen, sie war so komisch gewesen am letzten Freitag. Möglich, dass sie auf die Frage Hey, Anna, ist irgendwas? gewartet hatte, sie waren doch Freundinnen!
Hier im Bus konnte sie nicht mit Anna reden. Sie musste ihr eine SMS schreiben. Hi Anna, was ist mit Yannick, da stimmt was nicht , tippte Sarah in ihr Handy.
Sie wartete. Aber nicht lange. Ihr neuer Klingelton, eine Art Wecker, brüllte durch den Bus. »Anna«, las sie auf dem Display.
»Anna, jetzt nicht«, flüsterte Sarah, nachdem sie drangegangen war. »Ich sitz im Bus.«
»So was kann ich nicht schreiben, Sarah!« Annas Stimme klang aufgeregt und irgendwie fremd. »Ich hab am Donnerstag Pilars Kasten gefunden. Ganz unten in dem Haufen Sachen für den Sperrmüll. Meine Eltern haben ja den Termin verschwitzt, und ich hab meine alten Inliner gesucht. Keine Ahnung, wer das Ding da reingetan hat.«
»Ich kann es mir denken«, raunte Sarah.
»Das war nicht Yannick!«, rief Anna.
»Du weißt nicht alles«, erwiderte Sarah. Ein unverfänglicher Satz. Keiner von den anderen im Bus schien sich etwas dabei zu denken.
»Als die message kam, dass Pilar alle danach fragt, wollte ich den Kasten nur noch weghaben.« Anna redete so atemlos, als wäre einer hinter ihr her. »Aber ich wusste nicht, wohin damit. Ich hab ihn in ihren Garten gestellt, damit sie nicht weitersucht, und ihn vorher abgeschrubbt. Ich hab Massen von Kernseife benutzt. Sarah?«
»Ich bin noch da.«
»Du glaubst doch nicht, dass mein Bruder …?«
»Warum hast du den Kasten abgeschrubbt, wenn du es nicht glaubst?«
Sarah spürte, wie sie innerlich ruhiger wurde. Sie wusste jetzt, was zu tun war.
Von Anna kam keine Antwort. Das Handy hatte keinen Empfang mehr.
ZWEIUNDZWANZIG
Als sie ihr Müsli zubereitete, fühlte Pilar zum ersten Mal seit dem Unfall ihre Kraft zurückkehren. Die Schmerzen hatten nachgelassen, Dirks Orchideen waren wunderschön, und die Vorfreude auf Richard gab ihr Auftrieb. Spätestens heute Nachmittag konnten sie alles zusammen durchsprechen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Wenn sie nur nicht Freddy losgeschickt hätte! Auch das sollte sie der Hauptkommissarin lieber nicht erzählen. Es kam ihr von Minute zu Minute alberner vor.
Pilar trug die Müslischale ins Wohnzimmer, weil sie auf dem Sofa sitzen und lesen wollte, während sie aß. Außerdem war sie dort dem Kater näher, dem sie ein weiches Plätzchen hinter dem Esstisch neben dem Drachenbaum eingerichtet hatte. Goethe konnte von da aus das ganze Wohnzimmer und den kleinen Flur, der an der Treppe vorbei zur Küche führte, überblicken, ohne selbst
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