Kottenforst
gesehen zu werden.
Kaum hatte sie sich auf dem Sofa niedergelassen, das nächste Buch von ihrem Stapel aufgeklappt und einen Löffel Müsli in den Mund geschoben, ertönte der Dreiklang der Türglocke. Die nächste Haustür bekommt ein Fensterchen, damit man wenigstens sieht, wer draußen steht, dachte sie, während sie kauend den Flur entlangging und die Diele durchquerte.
Pilar öffnete die Tür nur halb. Und hätte sie am liebsten sofort zugeknallt. Aber das zarte Lächeln und der flehende Ausdruck der grauen Augen unter dem im Wind flatternden Tuch ließen sie innehalten. Sie spürte, dass sie das Lächeln, ohne zu wollen, erwiderte. Ihre Hand öffnete die Tür vollständig.
»Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.« Frau Fischmanns Stimme vibrierte. »Es kommt von Herzen, bitte weisen Sie mich nicht ab.«
Pilar presste die Lippen zusammen. Die Bitte kam zu überraschend. Wofür wollte sie sich entschuldigen? Mit Verärgerung bemerkte sie, dass Frau Fischmann ihre Stiefelette auf die Fußmatte stellte und die Spitze über die Schwelle ragte. Am Knöchel bewegte sich ein Zierriemen, der nicht ganz fest saß.
»Wir waren nicht freundlich zueinander«, fuhr Frau Fischmann mit weicher Stimme fort. »Wir sollten reinen Tisch machen, wie es in einer Gegend wie der unseren üblich ist.«
Pilar holte tief Luft. Ihr fiel keine passende Erwiderung ein. Es stimmte ja – bis zu dem katastrophalen Samstag war auch sie der Meinung gewesen, dass man hier freundlich und rücksichtsvoll miteinander umging.
»Ich bekenne, dass ich tatsächlich gestern Nacht an Ihrer Tür gewesen bin.«
Pilars Rücken straffte sich. Sie hatte das Gefühl, ein Stück zu wachsen. Zugleich war sie maßlos verwirrt. »Da lag ich also richtig«, äußerte sie sich, um endlich etwas zu sagen. Durch ihren Kopf tobten ohne Kontrolle Gedanken und Mutmaßungen, die sie als erledigt betrachtet hatte.
»Es ist nicht so, wie Sie denken, Frau Álvarez-Scholz. Ich möchte es Ihnen erklären – wenn ich darf.«
Den zaghaften Klang der Stimme begleitete ein wehmütiges Lächeln, die grauen Augen verdunkelte tiefer Kummer. Pilar bohrte ihren Blick in diese Augen hinein. Sie hielten stand, sie wichen nicht aus. Dennoch gab es keinen Grund, der Frau auch nur einen Zentimeter entgegenzukommen. Selbst wenn sie mit einer glaubhaften Erklärung aufwarten konnte, war es ein starkes Stück, sich mit einem Schlüssel an einer fremden Haustür zu schaffen zu machen.
»Wissen Sie … Aber darf ich nicht erst hereinkommen?« Frau Fischmann zog die Jacke aus taubenblauem Wollstoff enger um sich. »Ich habe Ihnen ja erzählt, dass ich sehr krank war. Die Ärztin hat gesagt, ich müsse mich vor Kälte schützen. Hier ist es sehr zugig.«
Ich bleibe hart, beschloss Pilar. Ich muss sie nicht hereinlassen.
»Wenn Sie mir etwas erklären wollen, rufen Sie mich einfach an.« Sie schob die Tür langsam auf die Stiefelette zu, wie sie es bei Kevins Mutter gesehen hatte.
Das leicht dreieckige Gesicht vor ihr verzog sich schmerzlich. Die Mundwinkel senkten sich, die Falten vertieften sich, das Kinn zitterte. Frau Fischmann schien mit den Tränen zu kämpfen. Pilar hielt die Tür an.
»Frau Álvarez-Scholz, wenn Sie auch nur einen Bruchteil von dem durchgemacht hätten, was ich ertragen musste, würden Sie mich nicht so grausam auf das Telefon verweisen. Ich brauche ein Gegenüber, einen Menschen aus Fleisch und Blut. Ist das wirklich zu viel verlangt?«
Die schönen grauen Augen blickten gerade und klar. Ich bin ein Unmensch, wenn ich es ihr verweigere, dachte Pilar. Ihr geht es schlecht, sie ist verzweifelt. Ich habe mir ein falsches Bild von ihr gemacht, im Laden wie in meiner dunklen Phantasie. So wie sie aussieht, ist sie mit ihrer Nervenkraft am Ende, jetzt bricht die Fassade weg. Sogar ihr Make-up ist heute nachlässig, es ist viel zu dick aufgetragen. Diese Frau braucht Hilfe, sie muss mit jemandem reden können.
»Kommen Sie«, sagte Pilar.
Frau Fischmann trat in die Diele und sah sich um. »Wohin?«
Pilar schloss die Haustür. »Bleiben wir doch hier. Die Diele ist warm.«
»Im Stehen? Das schaffe ich nicht. Seit ich krank gewesen bin, ist mein Kreislauf labil, ich muss sitzen.«
Pilar deutete auf die Truhe. »Darauf sitzt es sich ganz gut.«
»Ich brauche eine Lehne, verzeihen Sie«, sagte Frau Fischmann. Es klang verlegen. Als ob es ihr unangenehm wäre, sich selbst so wichtig nehmen zu müssen.
»Wie machen Sie das denn im Laden?« Was für ein Ekel
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