Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Thiesmeyer
Vom Netzwerk:
fuhr sie viel zu langsam hinunter, als ob ihre Gedanken Bremswirkung hätten. An der Reichsstraße zögerte sie, überlegte, ob sie warten oder links einbiegen sollte, entschied sich erst fürs Warten, dann fürs Losfahren, wieder fürs Warten und fuhr schließlich an.
    Ein Ruck, und der Motor war aus. Der Fiesta blieb mitten auf der Reichsstraße stehen, während von links mehrere Wagen auf sie zurasten. Durchdringendes Hupen. Ein Wagen zog knapp an ihr vorbei, ein anderer schlingerte, geriet auf die Gegenfahrbahn und zwang einen dritten zur Vollbremsung. Zornige Gesichter, Vogelzeigen, eine erhobene Faust. Pilar schoss Hitze in den Kopf, ihr Herz pochte bis zum Kinn. Jetzt ging es ihr noch mieser. Warum regten die sich so auf? Es war ja alles gut gegangen.
    Sie ließ den Motor wieder an, gab Gas und fuhr weiter in den benachbarten Stadtteil Lengsdorf. Entspann dich, sagte sie sich, denk an den geliebten Richy, deine wohlgeratenen Söhne Damian und Lukas, deine Freunde, an Freddy – nein, nicht Freddy, der hat alles noch schlimmer gemacht. Wenn zehn Leute seine unbedachte Äußerung über ihren Streit mit Frau Holzbeisser gehört hatten, konnten jetzt hundert davon wissen. Lieber an ihre beiden Kater und den Hund denken, die machten nie was falsch.
    Nach dem Einkauf ging es Pilar besser. Es war ihr gelungen, eine halbe Stunde nichts anderes im Kopf zu haben als das, was zu Hause auf den Tisch sollte. Sie hatte sogar an die Wäscheleine gedacht, die sie brauchte, weil die alte gerissen war, als sie die nassen Schlafsäcke ihrer Söhne darüber gehängt hatte.
    Auf der Heimfahrt stellte sie das Radio an. Musik! BAP , die rockigen Kölner, die Stimme von Wolfgang Niedecken, »Verdamp lang her«, dieses alte Stück, lange nicht gehört, das tat gut! Singend und summend glitt sie durch die sanften Kurven der von Bäumen gesäumten Reichsstraße und genoss den Blick auf den lang gezogenen Kreuzberghang, an dem hier und da gelbes Herbstlaub aufleuchtete. Verdamp lang her, datt isch an jet jeglöv, un dann dä Schock … mmm … mmm … merkwürdisch, wo su mansche Haas lang läuff … Als sie nach Ückesdorf abbog, drehte sie lauter. Verdamp lang her –
    Sie erstarrte. Von rechts ein glattes junges Gesicht unter einer grauen Mütze. Ein entsetzter Blick.
    Ihr Fuß flog auf die Bremse. Zu spät.
    Krachend und dumpf der Aufprall. Das Fahrrad auf dem Asphalt, der Mann mit dem Gesicht am Boden. Er bewegte sich nicht. Die Mütze lag neben ihm, ein paar Meter weiter seine Umhängetasche. Aus ihrem Innern sickerte eine schaumige braune Flüssigkeit auf das Weiß des Zebrastreifens.
    Wie betäubt stieg Pilar aus. Wie hatte sie ihn übersehen können? Sie bog mehrmals pro Woche hier ab und wusste, dass sie auf Radfahrer achten musste. Dieses Mal hatte sie es vergessen.
    Ein paar Leute stürzten herbei. Ein jagdgrün gekleideter älterer Herr und eine Frau in einem Pelzmantel beugten sich über den jungen Mann, über dessen Kinn sich eine glänzende rote Spur zog. Die Frau drehte sich zu Pilar um und streckte ihren Kopf aus dem Pelz. »Was stehen Sie da rum? Sehen Sie nicht, was Sie angerichtet haben?«
    Ein Mann mit Pudelmütze telefonierte offenbar mit der Polizei. »Sie kenne ich doch«, rief er Pilar entgegen, nachdem er aufgelegt hatte. »Sie sind diese Theaterfrau. Reicht es nicht bald?«
    »Keinen Funken Verantwortungsgefühl!«, schimpfte eine andere Frau. Aus ihrer Einkaufstasche schauten Lauchstängel, die auf und ab wippten, als wären sie ebenso aufgebracht wie sie.
    »Hoffen wir, dass die Polizei ordentlich durchgreift«, knurrte der schmallippige Mund des älteren Herrn. »Sonst muss mir im Wald doch mal ein Schuss danebengehen!« Er kicherte, als hätte er einen guten Witz gemacht, und ähnelte dabei dem Teufel mit dem Holzkopf aus Damians Handpuppenkiste.
    Schuld, dachte Pilar. Schwärzeste Schuld, die sich mit der anderen summiert. Eins plus eins macht unendlich. Man durfte ihr nichts anvertrauen, weder ein Messer noch ein Auto.
    »Scheiße«, gab der Radfahrer von sich. Er stützte sich auf seinen Ellbogen.
    Pilar schöpfte Hoffnung. Das Blut schien nur aus seiner Nase zu stammen, der Streifen am Kinn war fast trocken, und es kam nichts nach. Sie ging auf ihn zu, um ihm beim Aufstehen zu helfen, sich zu entschuldigen und irgendwas für ihn zu tun.
    Der junge Mann blickte sie an. Auch das noch: Es war der Sohn von Senta Bindelang, der Besitzerin des Schreibwarenladens, Niklas oder Nils, sie hatte es sich nie

Weitere Kostenlose Bücher