Kottenforst
merken können.
»Hätt’ ich mir fast gedacht, die Álvarez-Scholz! Wollen Sie mich auch noch abmurksen? Mordsspaß, wie?«
»Verzeih mir, Nils, ich –«
»Niklas, wenn schon!«
Er sprang auf und stülpte die Lippen nach vorn. Seine Spucke landete auf Pilars ausgestreckter Hand.
Der Zwischenfall schien schnell die Runde zu machen. Die Blicke mancher Leute wirkten am Dienstag noch geringschätziger als am Montag, die schweigende Verachtung schlug ihr deutlicher entgegen. Pilar hätte früher nie für möglich gehalten, dass so jemand wie die als Frohnatur bekannte Conny, die auf ihren Spaziergängen mit dem Pflegekind im Buggy immer gern ein Schwätzchen hielt, ihr aus dem Weg gehen würde. Doch am Dienstagmorgen beschleunigte Conny merklich ihren Schritt, als sie Pilar auf der Straße erblickte. Kein »Wie nett, datt isch disch treff«, nur ein hastig dahingerufenes »Morjen«. Sie schaute stur geradeaus und entfernte sich so eilig, als führe ihr der Bus vor der Nase weg.
»Das liegt am Novemberwetter«, meinte Richard, als Pilar ihm damit in den Ohren lag. »Die Kälte, der Regen, der ewig graue Himmel, das macht schlechte Laune. Sobald das Wetter besser wird, sind alle wieder freundlich, glaub mir.«
Pilar hätte ihm gern geglaubt, aber es gelang ihr nicht. Ihr kam es so vor, als nehme die Ablehnung mit jeder Stunde zu, ja, sogar, als helfe jemand ganz gezielt dem Tratsch nach. Selbst Leute, die sie gar nicht kannte, schienen Bescheid zu wissen und sie mit einer Mischung aus Abscheu und Neugier zu beäugen. Pilar wünschte sich, weniger auffällig auszusehen, damit nicht jeder sie an ihrem schwarzen Haar, das ihr dicht und füllig um den Kopf wippte, und ihren kirschrunden dunklen Augen erkannte.
Wer konnte ein Interesse daran haben, sie fertigzumachen? Bei Anja Dreisam und Herrn Winter wäre es zwar denkbar, aber war es auch wahrscheinlich? Sie hatte wenig mit ihnen zu tun, und auch von den meisten anderen Leuten hatte sie in den fünfzehn Jahren, die sie hier im neueren Teil des Ortes wohnte, den Eindruck gewonnen, dass sie sich nicht übermäßig für sie interessierten. Richy und sie hatten es nicht mal geschafft, die unmittelbaren Nachbarn richtig kennenzulernen, und von den weiter entfernten kannten sie nur wenige mit Namen. Den Auszug der Bewohner des Hauses nebenan hatten sie erst bemerkt, als schon die Nachfolger einzogen, und als Pilar die Lebensgefährtin des schweigsamen Herrn von schräg gegenüber zu einem Frauentreffen einladen wollte, erfuhr sie, dass sie seit fünf Monaten tot war.
Warum kochten die Gerüchte jetzt derart über? War es so weit gekommen, dass die Allgemeinheit gegen sie war? Die Theatergruppe – unverantwortlich? Pilar Álvarez-Scholz – unfähig, schlampig, nachlässig? Möglich, dass auch viele Leute anderer Ansicht waren: zum Beispiel die Malerin, die am Bolzplatz wohnte und deren knallige Acrylbilder durch die gardinenlosen Fenster leuchteten; oder die alte Dame, die täglich mit dem Rollator und drei ungezogenen Jack-Russel-Terriern unterwegs war; der pensionierte Richter, der jedes Jahr einen dicken Band mit seltsamen Gedichten herausbrachte, oder der tätowierte junge Mann, der das Haus seiner Oma geerbt hatte und im Garten obszöne Plastiken ausstellte – sie alle waren ein bisschen anders. Doch ihnen begegnete Pilar nicht.
Sie vermied es inzwischen, tagsüber zu Fuß durch Ückesdorf zu gehen oder den Weg nach Röttgen einzuschlagen, wo sie durch ihre Theaterarbeit fast ebenso bekannt war. Um das tägliche Körnerbrot zu besorgen, fuhr sie mit dem Auto zum benachbarten Brüser Berg. Wenn sie Nogger ausführte, wählte sie nicht die übliche Runde am Ortsrand, sondern nahm ihr Fahrrad, was mit dem blinden Hund einem Abenteuer glich, aber die Möglichkeit bot, so zu tun, als sähe sie niemanden, bevor sie den Wald erreichte. Bei trübem Novemberwetter traf man im Kottenforst nur wenig Leute.
Niklas Bindelang war mit Nasenbluten davongekommen, und das Fahrrad hatte nur einen Kratzer an der Vorderleuchte erlitten, wie sich noch an der Unfallstelle herausgestellt hatte. Pilar hatte ihm am Dienstag eine Packung spanische Süßigkeiten vorbeibringen wollen, auf die sie einen Geldschein für den Kauf einer neuen Fahrradlampe geklebt hatte. Aber nachdem sie in der Zeitung den Nachruf auf Frau Holzbeisser gelesen hatte, war ihr ganzer Schwung dahin. Die Worte zum tragischen Ende eines tätigen Lebens, zu der Lücke, die die engagierte Lehrerin hinterließ, trafen
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