Kottenforst
sie, als trüge sie allein die Schuld an deren Tod.
Erst am Mittwochabend begab sie sich endlich zum Reihenhaus der Bindelangs, wo sie vor Jahren schon einmal gewesen war, um den stämmigen Mittelfeldspieler der D-Jugend zu einem der Samstagsspiele abzuholen.
Durch das erleuchtete Fenster sah sie Mutter und Sohn Bindelang in der Küche hantieren. Töpfe und Deckel klapperten, es roch nach schmorendem Fleisch. Auf ihr Klingeln öffnete niemand, und als sie noch einmal auf den Knopf drückte, begann die Dunstabzugshaube zu rauschen. Pilar konnte sich nicht entschließen, an die Scheibe zu klopfen. Sie legte ihr Päckchen auf die Fußmatte, auf der »Welcome« geschrieben stand. Ohne noch einmal zum Fenster zu schauen, ging sie davon, den Blick gesenkt, als hätte sie vorgehabt, um Almosen zu bitten. Sie war sicher, dass die beiden sie bemerkt hatten.
Am späten Donnerstagnachmittag fand Pilar keine Marke für einen Brief an ihre Krankenversicherung. Stell dich nicht an, sagte sie sich, du fährst jetzt nicht zwei Kilometer für eine Briefmarke. Sie warf ihrem Spiegelbild einen aufmunternden Blick zu und ging zum Schreibwarenladen. Auf der Straße begegnete ihr niemand, nur an der Bushaltestelle warteten ein paar Leute. Ohne in ihre Richtung zu blicken, steuerte Pilar auf den Laden zu und sah schon durchs Schaufenster, dass sich drinnen keine Kunden aufhielten, aber sowohl Senta Bindelang als auch Frau Fischmann anwesend waren.
Senta trug einen braunen Steppmantel, offenbar war sie im Begriff zu gehen. Frau Fischmann stand im hellblauen Wollkleid hinter der Kasse und zählte Geld ab. Als Pilar eintrat und einen guten Abend wünschte, kniff Senta die Augen zusammen. Frau Fischmann hob den Kopf mit den glänzenden Locken, die ihr so wohlgeordnet um Gesicht und Hals lagen, dass sie Pilar an die Puppe erinnerte, die auf dem Bett ihrer Mutter saß.
»Oh, Frau Álvarez-Scholz«, rief Frau Fischmann aus und schob die Kassenlade zu. Ihre korallenroten Lippen lächelten nicht weniger freundlich als vor einer Woche, als Pilar bei ihr das Krepppapier für die Bühne gekauft hatte. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Es tut mir leid, was mir mit Niklas passiert ist«, wandte sich Pilar an die Inhaberin des Ladens. Ihr war, als hinge der Geruch von Schnaps in der Luft.
Senta bedachte sie mit einem kurzen Kopfnicken, rückte die Strickmütze auf ihrem dünnen Haar zurecht und drehte sich halb zu Frau Fischmann um. »Bis morgen also«, sagte sie mit fast geschlossenen Lippen. Ihre Mundwinkel sanken herab, als sie an Pilar vorbeiging, ihren Blick hielt sie starr auf die Tür gerichtet.
Sie haben über mich gesprochen, dachte Pilar. Kann ich mir überhaupt noch etwas anderes vorstellen, wenn ich zwei Menschen zusammen sehe? Diese Woche hat es Erdbeben, Terrorakte, Kriege und politische Skandale gegeben, und ich denke, sie reden nur über mich! Ist das zu fassen? Ich war doch früher nicht so!
Ein kühler Luftzug schwang durch den Raum. Hinter Senta Bindelang schloss sich die Ladentür. Der Schnapsgeruch wurde schwächer.
»Ich war eine ganze Woche krank«, erklärte Frau Fischmann und neigte den Kopf zu Pilar hinunter.
»Das tut mir leid.« Früher hatte es Pilar nie etwas ausgemacht, dass sie zu den meisten Menschen aufschauen musste. Aber seit dem katastrophalen Abend im Gemeindehaus störte es sie.
»Am Samstag war ich noch recht wackelig auf den Beinen. Aber ich wollte unbedingt Ihre Vorstellung sehen. Mir hat schon Ihr Weihnachtsstück letztes Jahr so gut gefallen.«
Die Weihnachtssatire war auch so eine Sache. Im Nachhinein wusste Pilar, dass sie zu kritisch mit dem Verhalten ihrer Mitmenschen in der Adventszeit und an den Festtagen umgegangen war. Die meisten hatten schallend gelacht, aber manche waren verstimmt gewesen. Pilar hatte einen Brief erhalten, in dem man sie höflichst darum bat, Darbietungen dieser Art in Zukunft zu unterlassen. Vierzehn Leute hatten unterschrieben, darunter ihre Nachbarn Eva und Christoph Winter.
Frau Fischmann reichte Pilar die gewünschte Briefmarke. »Ich hatte gehofft, die frische Luft würde mir guttun, und bin zu Fuß nach Röttgen gegangen. Aber es war ein Fehler, Frau Álvarez-Scholz. Der Weg von der ›Hölle‹ bergauf ist mir sehr schwergefallen, sodass ich viel zu spät am Gemeindehaus eingetroffen bin. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu begreifen, was los war.«
Pilar konnte ein leichtes Zucken nicht verhindern. Nur wer den Schrei nicht gehört hatte, konnte so
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