Kottenforst
solche Aufführungen nicht mehr zu dulden. Selbst-ver-ständ-lich«, Anja Dreisam zerhackte das Wort mit offensichtlichem Genuss, »ist er unserer Meinung. Jeder ist dieser Meinung.«
Jeder. Das ging unter die Haut. Pilar dachte an Patricias Umarmung, aber es half nicht mehr. Die Verkäuferin lächelte ihr zu, als sie das Körnerbrot über die Theke reichte, doch Pilar achtete kaum darauf und ging rasch nach draußen. Der Hund am Laternenpfahl grüßte mit Schwanzwedeln und Auf und Ab der Ohren zu ihr herüber. Hoffentlich war sie als Hundebetreuerin weiter geduldet. Sie wusste nicht, wie Sylvia jetzt über sie dachte.
»Sag’s ihr!«, hörte Pilar die Stimme einer Frau, die neben einem etwa zwölfjährigen Jungen aus der gegenüberliegenden Apotheke herauskam. Der Junge hatte eine rote Nase und wirkte erkältet. Pilar blieb irritiert stehen. Sicherlich waren die beiden am Samstag im Gemeindehaus gewesen. Sie wandte sich schnell ab, um die Hundeleine vom Laternenpfahl zu lösen.
»Mach schon«, drängte die Frau den Jungen und schob ihn in Pilars Richtung.
Der Junge blickte Nogger an und holte tief Luft. »Also. Mein Papa hat mit mir und dem Julius und dem –«
»Das muss Frau Álvarez-Scholz nicht alles wissen«, unterbrach ihn die Mutter.
»Wir haben die Aktion ›Sauberes Ückesdorf‹ gegründet«, erklärte der Junge, ohne den Blick vom Hund zu wenden, »weil wir am Bolzplatz so oft in Kacke reinschlittern.«
»Dazu sagt man Kot«, bemerkte die Mutter.
»Und deshalb haben wir den Leuten, die mit Hunden da lang gehen, Kacke vor die Tür gelegt.«
Pilar stutzte kurz, dann lachte sie laut auf. »Vielen Dank für die gute Nachricht!«
Mutter und Sohn sahen sie verblüfft an. Die Entschuldigung, zu der der Junge angesetzt hatte, erstarb auf seinen Lippen. Wie sollten die beiden ahnen, wie sie die Kacke auf ihrer Matte gedeutet hatte?
»Ich nehme immer Tüten mit, wenn Nogger dabei ist. Auch wenn ich dann das Häufchen lange tragen muss, bis ich einen Abfalleimer finde.«
Sauberes Ückesdorf, das gefiel Pilar. Es wäre ihr richtig gut gegangen, wenn nicht der Anblick von Anja Dreisam, die mit ihrer Brötchentüte an ihr vorbeiging, sie an die dollsten Gerüchte erinnert hätte.
* * *
Freddy knöpfte sich im Röttgener Edeka-Markt seine Winterjacke auf, ihm wurde allmählich zu warm. Sonst ging es hier immer zügig voran, aber heute war die Abwicklung an der Kasse wegen einer Reklamation ins Stocken geraten. Nun war eine zittrige alte Dame an der Reihe, die etwas länger brauchte, um ihre fünfundneunzig Cents abzuzählen. Kein Problem, Freddy stand gern in der Schlange. Wenn man das Glück hatte, dass die Leute einander kannten, erfuhr man das eine oder andere aus der Gegend, ohne das Geringste dazutun zu müssen.
Vor ihm befand sich eine ganz in Tweed gekleidete grauhaarige Dame im Gespräch mit einem alten Herrn in Lodenjacke. Sie sei aus Ückesdorf herübergekommen, zu Fuß, das mache sie seit dreißig Jahren, der Fußweg durch die »Hölle« sei so schön, nur die Dunkelheit müsse man meiden.
»Ach, Verzeihung«, schaltete sich Freddy ein, »wissen Sie, woher der Name ›Hölle‹ kommt?«
»Ja, natürlich«, erwiderte die Dame. »Früher sind die Ückesdorfer Kinder nach der Schule immer zum Bach hinuntergeklettert. Sie können sich vorstellen, wie die danach aussahen, und wenn sie nach Hause kamen, haben die Mütter ihnen die Hölle heiß gemacht. Deshalb hieß es bei den Kindern: Gehen wir heut in die ›Hölle‹?«
Freddy dankte ihr. Ein hübsche Erklärung, aber wohl kaum die richtige.
»Nun ja, Ückesdorf …«, sagte der Mann, der mit seinem Jägerhut und den grünen Stiefeln aussah, als wollte er anschließend zur Jagd gehen. »Ückesdorf hat sich sehr zum Nachteil verändert. Zu viele neue Leute von wer weiß woher. Ich bin froh, dass ich diesseits der ›Hölle‹ lebe.« Das Lächeln in dem kantigen Gesicht, das wie aus Holz geschnitzt wirkte, kam Freddy ein wenig boshaft vor.
Die Tweed-Dame verzog den Mund. »Ich bitte Sie, der Mord ist in Röttgen passiert.«
»Ich denke nur«, äußerte sich der Jäger immer noch lächelnd, »an solche Wesen wie die südländische Dame, die hier eine Kriminalposse geben wollte.«
»Sie war ein bisschen überfordert«, räumte die Ückesdorfer Dame ein.
»Das hätte sie vorher merken müssen. Nicht erst, wenn es Tote gibt.«
Freddy wollte zu einer kernigen Stellungnahme ansetzen und dachte noch über diplomatische Wendungen nach, als
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