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Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Thiesmeyer
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liefe ein Film in ihrem Kopf ab, der bisher festgehangen hatte: Sie glaubte den glatten Kunststoffgriff des Messers in ihrer rechten Hand zu fühlen, während ihre linke die Klinke losließ. Sie sah sich den kleinen Raum durchqueren bis zum Tisch, sich hinunterbeugen und ihre gelbe Handwerkskiste darunter hervorziehen. Sie sah sogar vor sich, wie sie den Deckel aufklappte, und erinnerte sich an das Geräusch, das entstand, als das Messer im Innern der Kiste den Hammer und die Schere berührte, Metall an Metall. Anschließend ließ sie den Deckel zufallen und legte die Rolle mit dem übrig gebliebenen Krepppapier obendrauf. Damit niemand auf die Idee käme, in dem Kasten herumzukramen, hatte sie ihn mitsamt der Rolle weit unter den Tisch geschoben.
    »Genau, so war es!«
    »Haben Sie etwas zu mir gesagt?«
    Pilar fuhr zusammen. Die Stimme des Mannes aus dem Saal. Wie hatte sie ihn vergessen können? Egal, sie musste das Hinterzimmer betreten, auch wenn es zur Falle werden konnte, sie musste ihren Kasten sehen, um ganz sicher sein zu können, dass sie sich nicht irrte. Sie war wie in einem Rausch.
    Den Lichtschalter fand sie sofort. Wie üblich flackerte die Neonröhre kurz, ehe sich ihr kaltes weißes Licht über alles ergoss. Pilar blickte unter den Tisch und meinte, das Sonnengelb des Kastens schon aufleuchten zu sehen. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen: Unter dem Tisch war es grau und dunkel. Da war nichts. Nur die Rolle mit dem braunen Krepppapier lag vor der Fußleiste an der Wand.
    Pilar entfuhr ein Aufschrei. Wo war ihr Kasten? Sie war sich eben noch so sicher gewesen: Ihr Handwerkskasten, der eigentlich eine Pferdeputzkiste war, hatte am Samstag, als sie mit den Vorbereitungen fertig gewesen waren, unter dem Tisch gestanden!
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Die Stimme des Mannes. Seine Schritte im Saal. Pilar stand da und starrte in die Leere unter dem Tisch. Jemand musste hier gewesen sein und den Kasten mitgenommen haben.
    Oder hatte die Polizei ihn einkassiert? Wegen der Fingerabdrücke? Natürlich, so musste es sein. Aber vorher, vor dem Mord, war jemand hier im Raum gewesen und hatte das Messer aus dem Kasten genommen. Jemand, der gewusst hatte, dass er es dort finden würde. Wer wusste denn von dem Messer? Die ganze Gruppe. Jeder von ihnen kannte das rote Messer. Seit vielen Jahren war es bei den Vorbereitungen dabei, weil immer irgendetwas zu schneiden war und es scharf und präzise schnitt. Auch Rita, Dieter und Kevins Schwester Vivian, die bis zum Ende des Sommers mitgespielt hatte, kannten das Messer mit dem auffälligen roten Griff. Also neun Personen, vermutlich mehr. Denn alle, die vor dem offiziellen Einlass in den Saal geschaut hatten, konnten bemerkt haben, wie Pilar mit dem Messer im Hinterzimmer verschwand.
    Pilar drehte sich um und linste am Türpfosten vorbei. Der Mann wandte sich dem Ausgang zu, stellte sie erleichtert fest. Sie hörte seine Schritte im Flur und dann schwächer draußen auf den Steinplatten. Die Tritte unsportlicher, nicht mehr junger Beine, die ungleich aufkamen, als ob er leicht humpelte. Vielleicht Arthrose in der Hüfte oder ein Schaden am Knie.
    Eigentlich konnte sie mit sich zufrieden sein: Sie hatte das Messer weggeräumt, wie die ordentlichste Beamtin es nicht besser erledigt hätte. Jetzt sollte sie dafür sorgen, dass es allgemein bekannt wurde; sie musste um ihr Ansehen kämpfen, statt in ihrer Lethargie zu versinken wie in einem Schlammloch! Zuerst einmal musste sie sich bei der Polizei nach dem Kasten erkundigen. Möglich, dass man dort bereits zu dem Ergebnis gekommen war, dass das Messer an einem sicheren Platz verstaut gewesen war und der Täter es mit List entwendet hatte, wofür die Leiterin der Theatergruppe weiß Gott nicht das Geringste konnte.
    Nachdem Pilar an der Eingangstür noch eine Weile gelauscht und außer dem fernen Rauschen der Autobahn nichts mehr gehört hatte, verließ sie das Gemeindehaus und schloss hinter sich ab. Im Pfarrhaus brannte nur eine einzige schwache Lampe hinter einer Gardine. Bis zu ihrem Wagen waren es noch einige Schritte. Sie warf rasche Blicke nach allen Seiten.
    Vor ihr leuchteten Scheinwerfer auf. Ein Motor sprang an. Sie sah den Mercedes vom Parkplatz fahren. Das kleinere Auto, das an der Hecke gestanden hatte, war fort. Es roch nach Diesel und feuchtem Laub. Die Erde in den Furchen des Rasenstücks glitzerte. Bodenfrost. Es war kälter geworden.
    Pilar setzte sich ans Steuer ihres Fiestas. Der Mercedes

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