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Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Thiesmeyer
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an. Vor dem Eintreffen der Zuschauer war um sie herum so viel los gewesen, die Gedanken waren von einem Punkt zum nächsten gesprungen, die Zeit war gerast. Nun fehlte ihr dieses kleine Stück Erinnerung.
    Pilar rannte in die Diele, zerrte eine Jacke vom Haken, griff nach dem Schlüssel vom Gemeindehaus und rief in Richtung der Küche:
    »Ich muss noch mal weg!«
    »Jetzt?«, hörte sie Richards Bass aus der Ecke, wo der Herd stand. »Wir können essen! Alles ist fertig!«
    Er klang sauer. Egal. Nein, nicht egal. Richy arbeitete elf bis zwölf Stunden am Tag, und das Abendessen war meistens die einzige Mahlzeit, die sie alle gemeinsam einnahmen. Obwohl er sicher müde war, hatte er auf dem Heimweg Fischfilets besorgt und sich noch an den Herd gestellt. Aber Pilar wollte sich nicht zurückhalten lassen. Es musste sein. Jetzt!

SIEBEN
    Unter dem blassen Halbmond lag das Gemeindehaus in Röttgen still und dunkel hinter dem Kirchturm, der durch die samtblaue Nacht über das Tal nach Ückesdorf blickte. Die beiden Orte teilten sich zwar Schulen, Kirchen, Sportanlagen und Vereinsleben miteinander, waren aber keine Einheit. Genauso wenig wie ich, dachte Pilar. Auf der einen Seite stehe ich selbst, auf der anderen das Wesen, das ich nach dem Urteil der Leute bin, dazwischen ein Tal, das ›Hölle‹ heißt.
    Im Obergeschoss des Pfarrhauses brannte noch Licht. Auf dem Parkplatz standen zwei Fahrzeuge: Ein heller Mercedes war im Schein einer Straßenlaterne abgestellt, ein dunkler Kleinwagen parkte in einem düsteren Bereich vor der Gartenhecke des Pfarrers. Pilar vermutete, dass beide Fahrzeuge der Pfarrersfamilie gehörten. Sie zog es vor, neben dem Mercedes zu parken.
    Als sie zu Fuß auf das Gemeindehaus zuging, sah sie, dass der Rasen und die Beete von zahlreichen Reifenspuren durchfurcht waren. Die Absperrbänder der Polizei waren entfernt, und nichts deutete darauf hin, dass man das Gebäude nicht betreten durfte. Sie überquerte den Vorplatz, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Eingangstür.
    Drinnen roch es nach der Bienenwachs-Emulsion, die Rita zur Pflege der Bodenkacheln benutzte. Pilar tastete die raue Backsteinwand neben der Eingangstür nach dem Lichtschalter ab, doch dann kam ihr der Gedanke, dass sie lieber allein und unbemerkt bleiben wollte. Das würde kaum klappen, wenn man vom Pfarrhaus aus hier die Lampen brennen sah. Sie fand sich auch ohne elektrisches Licht zurecht. Richtig dunkel waren nur die Ecken. Die Saaltür war an den hellen Scheiben aus Milchglas zu erkennen. Pilar schloss sie auf und stellte den Türflügel am Boden fest. Das schnarrende Geräusch, das dabei entstand, ließ sie zusammenfahren. Ihr wurde bewusst, wie still es ansonsten war. Eine sonderbare Beklemmung befiel sie, eine Art Schaudern, das sie nicht zulassen wollte.
    Die dicken schwarzen Vorhänge an den Fenstern waren nur teilweise zugezogen. Pilar erkannte dahinter die Wiese und den Schuppen darauf, das kahle Feld sowie die Lichter der tiefer liegenden Stadt und den Schimmer am Himmel darüber. Durch ein Seitenfenster warf der Mond einen Lichtstreifen quer durch den Saal. Pilar konnte alles gut erkennen: die Stühle, die noch in Reihen aufgestellt waren, die Bühne und auch die Kulissenwände, die jemand abgebaut, zusammengelegt und aufeinandergestapelt hatte, den Paravent, der wie ein Dach obendrauf lag, die Scheinwerfer und Lautsprecherboxen, die nebeneinander an der Wand standen. Ebenso die Tür zu dem kleinen Raum hinter der Bühne, wo die Kostüme und Requisiten für die Aufführung lagen, die nicht stattgefunden hatte und nie stattfinden würde. Quälender Druck verengte ihre Brust.
    Es kostete sie Überwindung, nach rechts zu schauen, zu der Stelle hinter der letzten Stuhlreihe, wo es geschehen war. Dieser Bereich lag in tiefem Schatten. Ihr war, als ginge von dort etwas Bedrohliches aus, eine leise Warnung, die sie nicht verstand. So was Albernes! Sie sollte sich lieber auf den Grund konzentrieren, aus dem sie hergekommen war.
    Pilar ging ein paar Schritte auf das Dunkel zu. Neben der letzten Stuhlreihe blieb sie stehen, um zu überlegen. Ein feiner Luftzug streifte ihr Gesicht. Ganz kurz nur. Als ob sich in der Nähe jemand vorsichtig bewegt hätte.
    Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Diese bescheuerte Angst im Dunkeln, diese Angst, die ihr die Mutter eingeimpft hatte! Und dieses Gefühl, es sei außer ihr noch jemand im Raum, das war doch auch nicht auf ihrem Mist gewachsen, das war durch Filme und Romane

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