Kottenforst
sein – hatte sie sich in dieser Gegend wohlgefühlt. Sie hatte gedacht, das viele Grün rundherum und die Nähe des Waldes müssten die Menschen glücklich machen. Und nun war sie selbst so unglücklich.
Sie hörte Richards Gesundheitsschlappen durch die Diele und den angrenzenden kurzen Flur kommen. Auf dem Bettvorleger verstummten sie. Eine große, warme Hand strich über ihren Kopf und ihren Rücken. »Das hört bald auf«, brummte Richards Bass. »So ein Gerede dauert nicht lang.«
»Da muss ich erst mal durch! Ich will sofort wegziehen!« Ihre Stimme klang zwei Oktaven höher als seine. Ein Wunder, dass er so ruhig blieb.
»Du brauchst etwas zu essen, ich werfe den Fisch in die Pfanne. Was kann ich noch für dich tun?«
»Ein leer stehendes Haus am anderen Ende der Stadt mieten.«
»Ich meine, ob ich dir was bringen soll. Einen Tee zum Beispiel.«
»Geh bitte in den Vorgarten und sammle die Dosen und das ganze Zeug auf, das irgendwer dort hingeschmissen hat.
»Liegt da mehr als sonst? Ich hab schon immer gesagt, es gibt in Ückesdorf zu wenig Abfalleimer.«
»Und schneid die Büsche und rupf das Unkraut aus. Keiner soll behaupten können, ich sei schlampig. In letzter Zeit war mir alles zu viel.«
»Soll es so geleckt aussehen wie bei Winters?« Das Geräusch seiner Schlappen entfernte sich. »Na gut, die Dosen, meinetwegen.«
Goethe kroch unter dem Schrank hervor und gab sein heiseres »Miö« von sich, das immer ein wenig nach Halsweh klang. Er sprang auf die Fensterbank, setzte sich und blickte Pilar aus seinen großen Augen an, die sich langsam zu schrägen Schlitzen zusammenzogen. Im Licht der Stehlampe wirkte sein Fell wie das Werk eines impressionistischen Malers, ein warmer Goldton, fein gestrichelt zwischen schwarzen Streifen.
Pilar setzte sich auf. Sie war so tief verletzt, dazu zerfleischt von unsinnigen Selbstvorwürfen. In ihrem Kopf schossen Bruchstücke von Gedanken umher wie eine Horde kopfloser Hühner, ohne Sinn und Ordnung. Sie hatte nichts mehr im Griff.
Der Kater auf der Fensterbank schnurrte. Sie musste zur Ruhe kommen wie er. Nachdenken.
Das Messer. Ja, das hätte ihr nicht passieren dürfen und war ihr noch nie passiert. Bei allem, was das Theater anging, war sie viel ordentlicher als sonst. Ihre Schauspieler nannten sie sogar pingelig, und wenn einer irgendwas verschlampt hatte, geriet sie jedes Mal in Wut. Für eine erfolgreiche Aufführung war es notwendig, dass jedes Ding an seinem Platz lag und jederzeit prompt zum Einsatz kommen konnte. Das Messer war keine Requisite, aber dennoch – wie hatte sie es im Saal liegen lassen können? Niemand schien sich darüber zu wundern, dass ihr das passiert war, nur sie selbst.
Durch die offene Zimmertür drang der Duft von gebratenem Fisch. Sie musste in die Küche gehen, um Richy zu helfen, konnte sich aber nur dazu aufraffen, ans Fenster zu treten und die Stirn an die kühle Scheibe zu legen. Im dunklen Garten glänzte hier und da ein Blatt oder ein Zweig auf, und durch die Büsche am Zaun schimmerten die Lichter aus den Häusern der Parallelstraße. Ganz links hob sich der breite Giebel des Hauses, in dem Frau Holzbeisser gelebt hatte, schwarz vom Himmel ab. Hinter den Fenstern schien es vollkommen dunkel zu sein, als wären die Bewohner verreist. Unglaublich, der Tod, dachte Pilar, unvorstellbar.
Vorsichtig ließ sie den Rollladen herunter, Stück für Stück, damit Goethe keinen Schrecken bekam. Mit der anderen Hand strich sie über seine Schulterblätter, wo die Streifen schwarze Bogen formten. Ihr Zeigefinger fuhr die Bogen entlang, erst den linken, dann den rechten. Der Kater schloss die Augen und schnurrte lauter.
Sie sah zu Richards Radiowecker hinüber. Fast zehn Uhr. Ein bisschen zu spät, um noch ins Gemeindehaus zu fahren. Der Pfarrer wohnte direkt daneben und würde es ungehörig finden, wenn sie jetzt dort vorführe. Andererseits wäre es um diese Zeit günstig, weil ihr niemand in die Quere käme. Sie hätte sogar eine Erklärung für ihr Auftauchen: Ihre Sachen, die Requisiten und Kostüme, waren noch dort. Sie rechnete täglich mit dem Anruf des Pfarrers, dass sie den Kram abholen solle. Ob die Kriminalpolizei den Tatort noch abgesperrt hielt und die Tür noch versiegelt war? Würde sie überhaupt hineinkommen? Aber sie musste! Der Wunsch, in Ruhe und ungestört alles abzugehen, um Schritt für Schritt dahinterzukommen, wo sie am Samstag das Messer liegen gelassen hatte, schwoll zu einem heftigen Bedürfnis
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