Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Thiesmeyer
Vom Netzwerk:
bedauernder Ausdruck legte sich über Tommys kantiges Gesicht.
    »Ach. Und wo lag das rote Messer?«
    »Auf einem Stuhl im Saal vielleicht? Irgendwer hat mir das erzählt.«
    Pilar hatte das Gefühl, keine Luft zu kriegen. »Das Messer war im Kasten, Tommy. Und der stand im Hinterzimmer unterm Tisch.«
    »Ach da? Ich erinnere mich nur an eine Rolle Krepppapier.« Er schaute sie aus runden blauen Augen an und wich ihrem Blick nicht aus.
    Pilar drehte sich abrupt um und ging über den gepflasterten Weg zurück zur Straße. Das war abgesprochen, sie logen alle! Natürlich bekam Tommy es am besten hin.
    Dicht an ihrem Fiesta sah Pilar einen kleinen Jungen auf einem Roller vorbeifahren. Sie meinte ein Kratzen und Quietschen zu hören. Als sie den Wagen erreicht hatte, entdeckte sie eine waagerechte Schramme auf der Fahrertür.
    »He, du! Hat dein Lenker mein Auto geratscht?«
    Der Junge drehte sich im Fahren nach ihr um. »Das war ich nicht.«
    »Aber du bist doch –«
    »Der Ratsch war vorher da. Hab ich schon von Weitem gesehen.«
    Gelogen. Und nicht mal schlecht. Lügen war ein Kinderspiel. Man erfand die Wirklichkeit einfach neu und schob die Schuld von sich weg. Aber aus welchem Grund hatten Katie, Kevin, Vivi und Tommy gelogen? War es möglich, dass sie dem Mörder die Tatwaffe verschafft, also bewusst Beihilfe zum Mord geleistet hatten, indem sie ihm den Kasten zuspielten? Warum den ganzen Kasten und nicht nur das Messer? Alles in Pilar sträubte sich, daran zu glauben.
    Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Als sie langsam anfuhr, sah sie die Fahrbahn wie im Nebel vor sich. Viel schärfer waren die Bilder vor ihrem inneren Auge: Jemand schlich aus dem Hinterzimmer in den Saal und übergab dem Mörder den Kasten. Dieter war durch das Ausbleiben von Licht und Ton abgelenkt, und als die Musik einsetzte, konnte niemand hören, wie der Kasten abgestellt und geöffnet wurde. Nach der Tat verschwand der Mörder damit. Jahre später würde man den Kasten im Kottenforst finden, im Röttgener See oder im Gebüsch an der Autobahn.
    Pilar hoffte, dass die übrigen drei aus der Gruppe weniger abgebrüht waren. Max wirkte mit seinen eckigen Brillengläsern wie die moderne Ausgabe des klassischen Musterknaben, die zarte Anna war von sanftem, stillem Wesen, bemüht, immer alles richtig zu machen, nur Sarah vermochte Pilar nicht einzuschätzen.
    Max wohnte jenseits der Reichsstraße in einem frei stehenden Haus mit großem Garten oberhalb des Katzenlochbachs. Pilar konnte durch die Glasscheibe in der Haustür sehen, dass er im Flur stand und ein Handy ans Ohr hielt. Auf dem Rücken seines T-Shirts leuchteten grüne und rote Lettern. »That’s what friends are for« , las Pilar. Sie legte den Zeigefinger auf den Klingelknopf. Der gongartige Ton ließ den T-Shirt-Rücken zusammenfahren, die Buchstaben kippten aufeinander. Der Kopf mit dem akkurat geschnittenen Haar, das immer so aussah, als käme er gerade vom Friseur, wandte sich der Haustür zu, die sich kurz darauf öffnete.
    »Hi, Max. Ich suche meinen gelben Handwerks–«
    »Den hab ich gesehen«, sagte er, noch bevor sie das Wort ganz ausgesprochen hatte. Er blickte sie nicht an, sondern starrte auf den roten Läufer vor seinen Füßen.
    »Wann zuletzt?«
    »Bevor es losging.«
    Sensationell! Also hatten sie sich doch nicht abgesprochen. Oder Max, der Wohlerzogene, war nicht bereit, bei der Lügerei mitzuspielen. Was für ein netter Junge.
    »Hast du gesehen, ob ihn jemand aus dem Raum hinter der Bühne getragen hat?«, fragte sie in sanftem Ton, um ihn auf dem rechten Weg zu halten.
    »Nicht direkt.« Er beugte sich zum Boden hinab und zupfte an seiner Socke herum, als gäbe es da etwas zu korrigieren.
    »Wie meinst du das?«, fragte Pilar noch eine Spur zarter, obwohl sie ihn am liebsten am T-Shirt gepackt und geschüttelt hätte.
    »Kann schon sein, dass ihn jemand mitgenommen hat.« Er hob den Kopf und blickte an ihr vorbei hinüber zu den Bäumen an der Straße. »Da haben ja jede Menge Leute reingeguckt.« Und schon galt sein Blick wieder dem roten Läufer.
    »Jede Menge?«, rief Pilar. Wie bitte? Das hätte sie gemerkt! Außerdem hätten sich diese Leute am Paravent und an der Technik vorbeidrücken müssen – jede Menge war ausgeschlossen.
    »Weiß nicht, ob jemand richtig drin war, aber könnte sein«, murmelte Max in Richtung Boden.
    Er ist der schlechteste Lügner von allen, dachte Pilar verärgert, er hat absolut kein Talent und will sich mit

Weitere Kostenlose Bücher