Kottenforst
haben keine Medizinstudentin im Haus und deshalb kein Skelett.«
Anna hatte im Oktober überraschend einen Studienplatz für Medizin erhalten, fiel Pilar ein. Hinter sich hörte sie das Geknatter eines Motorrollers. Er rollte heran, verstummte und wurde am Zaun abgestellt. Herr Brond blickte an ihr vorbei. Ein schmaler junger Mann in einer lässigen weiten Jacke streifte ihren Arm und trottete an ihr vorüber die Stufen zur Haustür hinauf. Das musste Annas Bruder sein, der Theater doof fand.
Tatsächlich, stellte Pilar fest, als er ihr sein blasses Gesicht für einen Moment zuwandte, das war der Junge, der als Zwölf- oder Dreizehnjähriger regelmäßig ihre Proben durcheinandergebracht hatte. Schlagartig befiel sie ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihm damals eine Hauptrolle verwehrt, weil er pausenlos herumgealbert und die Arbeit der Gruppe gestört hatte, der er anscheinend nur auf Drängen seiner Mutter beigetreten war, die ihn für talentiert hielt. Nach ein paar kritischen Bemerkungen der anderen hatte er den Karton mit den alten Brillengestellen, die ein Optiker der Gruppe gespendet hatte, zu Boden geworfen, den gesamten Inhalt mit den Schuhen zertreten und war wutschnaubend davongestürmt. Pilar musste sich eingestehen, dass sie mit dem Jungen überfordert gewesen war. Das wurmte sie heute noch. In letzter Zeit hatte sie ihn manchmal im Bus gesehen, meistens mit einem Mädchen. Offenbar waren die Flegeljahre vorbei.
Pilars Blick fiel auf Sarah, deren dunkle Augen einen Ausdruck annahmen, der schwer zu deuten war. Vermutlich hatte Annas Bruder, obwohl er ziemlich farblos wirkte, etwas an sich, das ihr gefiel – der Schwung, mit dem er sich das helle Haar aus der Stirn warf, seine wasserhellen Augen mit den etwas dunkleren Wimpern oder die geschmeidige Art, sich zu bewegen.
»Hallo, Yannick«, sagte Herr Brond.
»Studiert Ihr Sohn auch Medizin?«, fragte Pilar.
»Nö.« Der Sohn grinste, ohne Pilar anzusehen. »Ich pul anderen Leuten nicht im Arsch rum.«
Der Vater lachte peinlich berührt. »Na, na …«
»Hast ja nicht mal Abi«, kam Annas Stimme aus dem Hintergrund.
»Ich schleim eben nicht so rum wie du.«
Solche Sprüche kannte Pilar. »Hast du einen guten Ausbildungsplatz?«, wandte sie sich an Yannick.
»Das lassen Sie mal unsere Sorge sein«, knurrte sein Vater. »Der hat ein Händchen fürs Praktische, der bringt es noch zu was. Und er wird eher Geld verdienen als Anna mit ihren hochfliegenden Plänen. Ich meine richtiges Geld, keinen Hungerlohn.«
Jetzt sah Pilar, dass auch Frau Brond-Brohl in dem kleinen Flur stand. Sie stützte ihren hageren Körper mit einer Hand am Schuhschrank ab. Seit ihrer Chemotherapie im Frühjahr sah sie mager und abgespannt aus.
»Wir haben auch nicht studiert«, erklärte sie. »Aber wir sind stolz auf Anna. Sie schafft alles, was sie sich vornimmt.«
»Yannick doch auch, Christiane! Der Meister hat ihn mit Kusshand genommen. Und er verdient sich einiges nebenher.«
Warum betonten sie die Qualitäten ihrer Kinder so? War der Ausbildungsplatz nicht so toll? Hatten sie andere Probleme? Pilar blickte Yannick nach, wie er im Haus die Treppe hinaufstieg. Von Conny, die schräg gegenüber wohnte, hatte sie erfahren, Herr Brond habe seine Kinder früher einmal dermaßen verprügelt, dass seine Frau anschließend mit ihnen zum Arzt fahren musste. Auch so ein Gerücht, dachte Pilar, es muss nicht stimmen, das weiß man, und trotzdem glaubt man es ein bisschen.
»Jetzt hören Sie mir mal zu«, fuhr Herr Brond Pilar erneut an. »Anna hat ein Herz aus Knete geformt, das sollten sie in der Uni.«
»Papa!«, rief Anna aus dem Hintergrund. »Das ist nicht wichtig!«
»Sie hat es an dem Skelett befestigt, genau da, wo ein Herz nun mal hingehört, und irgendein Schwachkopf hat das herumerzählt. Was die Polizei höchst interessant fand!«
Hoppla, ging es Pilar durch den Kopf. Hatte Anna geübt, um Frau Holzbeissers Herz mit tödlicher Genauigkeit treffen zu können? Anna wäre in den ersten Minuten des Stücks nicht dran gewesen und ohne Weiteres an das Messer, Dieters Laptop und die Stecker der Scheinwerferanlage herangekommen. In dem ausbrechenden Chaos dürfte es ihr nicht schwergefallen sein, wieder unbemerkt hinter die Bühne zu gelangen.
»Wenn da was nachkommt, stehen Sie mir dafür gerade!«
»Wieso ich?«, rief Pilar.
Der aufgebrachte Vater hatte die Haustür bereits zugeworfen.
Nein, Anna kam nicht als Mörderin in Betracht. Ihr Abitur hatte sie in der
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